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Ich bin nur nach Berlin gekommen, um Sie zu treffen. Werfen Sie doch einen Blick zu mir herüber, ich sitze am Tisch zwölf.»

      Als Gisela Wittenbeck tat, wie ihr geheißen, konnte sie nicht anders, als laut auszurufen: «O Gott, das ist er wirklich: Gregory Peck!»

      Die alte Dame hatte mit gefalteten Händen kerzengerade auf dem Küchenstuhl gesessen. «Haltung bewahren!» war die Devise ihres Lebens gewesen, und die hatte sie auch im Tod beherzigt. Während das Gas aus den vier Kochstellen ihres Herdes geströmt war, hatte sie gebetet.

      So hatte ihr Sohn sie gefunden, und obwohl er schnell alle Fenster aufgerissen und die Feuerwehr und den Notarzt gerufen hatte, war sie nicht mehr zu retten gewesen.

      Dieses Bild hatte sich in Ludwig Wittenbecks Gedächtnis eingebrannt und zerfraß seine Seele. Mit 62 Jahren hatte seine Mutter den Gashahn aufgedreht. Sie sei schwermütig gewesen, hatten die Ärzte gesagt. Wegen ihrer gedrückten Stimmung hatte man ihr ein Sedativum verschrieben. Aber «das chemische Zeugs» hatte sie nicht nehmen wollen, und lauwarme Bäder und Baldriantropfen allein hatten nicht geholfen. Sie hatte zu viel erlebt: den Tod ihres Ältesten und ihres Mannes im Krieg, die Bombennächte im Luftschutzkeller, zudem war sie viele Stunden lang verschüttet gewesen, nachdem ihr Mietshaus getroffen worden war, dann die Vergewaltigungen durch die Russen, nach Kriegsende die Berliner Blockade und schließlich den Bau der Mauer. Zu ihrem geliebten Gartengrundstück in Ost-Berlin hatte sie keinen Zutritt mehr gehabt.

      Wittenbeck fürchtete, die Schwermut von seiner Mutter geerbt zu haben. Als seine Frau nach einem heftigen Streit ausgezogen war, hatte er schon einen Abschiedsbrief begonnen, ihn aber nie zu Ende gebracht und in seinem neuen Haus in der Kaubstraße versteckt.

      Seit mich meine über alles geliebte Frau verlassen hat, habe ich meine gesamte Lebensenergie verloren. Ich habe zu nichts mehr Lust, kann mich auf nichts mehr konzentrieren, bin andauernd müde, kann aber nicht richtig schlafen, habe Angst, in meinem Haus überfallen und erschlagen zu werden, sehe andauernd meine tote Mutter vor mir, glaube, Krebs zu haben, fühle mich trotz meines Reichtums als Versager, denn die eigentlichen Ziele meines Lebens habe ich nicht erreicht. Nicht einmal Kinder habe ich zeugen können.

      Wittenbeck hatte sich schon einmal auf dem Bahnhof Zoo vor einen D-Zug werfen wollen, aber die Lokomotive war erst in der Ferne, am Savignyplatz zu sehen gewesen, da war Thomas Suthfeld, sein Geschäftspartner, neben ihm aufgetaucht. Gemeinsam hatten sie die Pharmafirma Pulmo Sanitatem Berlin GmbH, kurz PSB, gegründet. So war Wittenbeck doch nicht gesprungen. Im entscheidenden Augenblick hatte er wieder einmal versagt.

      Niemand ahnte etwas von seinen inneren Nöten, für seine Mitmenschen war er der überaus erfolgreiche Pharmazeut und Geschäftsmann, der sein Glück gemacht hatte.

      Es war Sonntag. Alle Welt freute sich auf diesen Wochentag, Wittenbeck dagegen fürchtete ihn. Da saß er mutterseelenallein in seiner alten Villa in Kladow und verfluchte Gott und die Welt. Kladow – er konnte das Wort nicht mehr hören. Das Haus sollte verkauft werden, aber sein Makler hatte noch keinen zahlungskräftigen Käufer gefunden. Sein neues Domizil in der Nähe des Fehrbelliner Platzes war noch nicht bezugsfertig, weshalb er immer noch einige Tage und Nächte in Kladow verbrachte. Das wollte er bis zum Ende des Herbstes durchhalten, da er bis dahin draußen in der Gatower Heide und unten an der Havel noch ausgedehnte Spaziergänge unternehmen konnte.

      Heute war der 13. September. Im RIAS wurde schon den ganzen Morgen über den Besuch Martin Luther Kings berichtet. Der amerikanische Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer war für 48 Stunden nach Berlin gekommen. Wittenbeck ärgerte es, dass die Rundfunkleute nicht Martin Luther sagten, sondern «Martin Luser», als wäre der große Reformator ein Verlierer.

      Eigentlich hatte Wittenbeck noch Friedrich Lufts Theaterkritik hören wollen – die Sätze, mit denen er seine Sendungen beschloss, waren in West-Berlin zu einer Standardwendung geworden: «Wie immer – gleiche Zeit, gleiche Stelle, gleiche Welle.» Doch bis drei viertel elf hielt es Wittenbeck in seinem einsamen Palast nicht mehr aus. Er holte seinen Mercedes aus der Garage, um in die Gatower Heide zu fahren. Der Große Glienicker See wäre näher gewesen, aber den hasste Wittenbeck, weil die Grenze zur DDR durch seine Mitte verlief und er das Elend der deutschen Spaltung dort allzu deutlich vor Augen hatte. Wittenbeck hatte seine Frau immer gewarnt, nicht zu weit hinauszuschwimmen, um nicht als Grenzverletzerin festgenommen zu werden.

      Er wohnte in der Selbitzer Straße, die vom Ritterfelddamm abging. Nachdem er ein Stück in Richtung Havel gefahren war, bog er in den Kladower Damm ein, der über Gatow nach Spandau führte, vorbei an den Kasernen der Engländer und am Krankenhaus Havelhöhe. In ein paar Minuten war er am Windmühlenberg angekommen, parkte seinen Wagen in der Nähe eines Fußballplatzes und begann seinen Spaziergang. Rechts von ihm dehnten sich endlose Felder, links lag das Waldstück mit den Hellebergen und der Revierförsterei Gatow, geradeaus kam er zur Gatower Heide. Die bekannten Ausflugsziele der eingemauerten Frontstadt waren zumeist fürchterlich überlaufen, doch hier war West-Berlin noch ruhig und idyllisch. Wittenbeck liebte dieses Fleckchen Erde so sehr, dass seine Frau gelästert hatte, er wolle sicherlich auf dem nahen Landschaftsfriedhof Gatow begraben werden.

      Gerade als er hoffte, keinem bekannten Gesicht zu begegnen, lief ihm Inge Bugsin über den Weg, die Tochter seines Saunafreundes Max, der mit Büromöbeln handelte und sich nach dem Mauerbau ein Grundstück mit Laube in Kladow gekauft hatte. Sie führte einen Dobermann an der Leine, der Wittenbeck aggressiv anbellte.

      «Bronco, bist du wohl ruhig!» Inge riss heftig an der Leine. «Sitz!»

      Wittenbeck lachte. «Ihr seid also auf den Hund gekommen …»

      «Ja, Vati wollte einen haben, damit der den Garten bewachen kann.»

      Inge ging auf die dreißig zu, war also sechzehn Jahre jünger als Wittenbeck und hätte an seiner Seite und in seinem Bett sicher besser gewirkt als alle erdenklichen Beruhigungsmittel.

      «Haben Sie an die Salbe für meinen Vater gedacht?», wollte Inge wissen.

      Wittenbeck fasste sich an den Kopf. «Was für eine Salbe?»

      «Na, die gegen seine vielen Falten im Gesicht.»

      «Ah, die Faltenfrei!», rief Wittenbeck. Seine Pharmafirma stellte zwar primär Mittel gegen Asthma her, entwickelte aber auch noch etliche Tabletten und Salben gegen andere Leiden. «Gott, die Salbe für Max! Die haben wir in letzter Zeit gar nicht mehr hergestellt. Die Produktion wird erst wieder am Montag aufgenommen. Es dauert dann noch eine Weile, bis die Salbe wieder zur Verfügung steht. Am besten, du kommst bei mir in der Kaubstraße vorbei und holst sie dir ab.»

      In der Kaubstraße stand die Stadtvilla, die er gekauft hatte, bevor seine Frau ihn verlassen hatte. Gemeinsam hatten sie hier einen neuen Lebensabschnitt beginnen wollen. Nun zog Wittenbeck alleine in das Haus ein. Immerhin blieb ihm auf diese Weise der tägliche lange Weg zu seiner Firma erspart, die sich am Südstern befand, und er kam endlich aus Kladow raus.

      Die Bugsins wohnten in der Koblenzer Straße, also nicht allzu weit entfernt von der Kaubstraße. Den kleinen Fußmarsch konnte er Inge durchaus zumuten, zumal sie mit dem Hund ohnehin spazieren gehen musste. «Ich sag dir mal, wann ich in den nächsten Tagen abends in der Kaubstraße sein werde.» Er zog den Taschenkalender hervor und wollte ihr die Termine nennen.

      In diesem Augenblick entdeckte der Dobermann in der Nähe ein Eichhörnchen, sprang auf und riss Inge mit sich.

      Wittenbeck sah ihr lange hinterher. Das wäre die richtige Frau für ein zweites Leben gewesen. Sie wollte in Kürze heiraten und mit ihrem zukünftigen Ehemann zusammenziehen. Aber was hieß das heutzutage schon?

      Er setzte seinen Spaziergang fort und hoffte, dabei in eine Art Trancezustand zu fallen und alles, was ihn derzeit belastete, vergessen zu können. Er wollte eigentlich nichts anderes als die fließende, sonnenhelle Leere, doch immer wieder kamen unangenehme Erinnerungen in ihm hoch, sei es von einer Prüfung, die er in jungen Jahren nicht bestanden hatte, oder von einer Auseinandersetzung mit seiner Frau.

      Wittenbeck gelangte zur Gatower Heide, die an der Potsdamer Chaussee endete und hinter der sich viele Kilometer lang Grenzzäune und Todesstreifen erstreckten.

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