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wieder in seinen Wagen gestiegen war, zögerte er, den Zündschlüssel herumzudrehen. Es grauste ihn davor, in sein einsames Haus zurückzukehren. Und so machte er sich auf den Weg in die Firma. Fürs Theater, ein Konzert oder die Oper war es noch zu früh, und allein in einem Restaurant zu sitzen und zu speisen war nichts für ihn.

      Von Gatow bis zum Südstern brauchte man auch an einem Sonntag eine gute Dreiviertelstunde. Wittenbeck fuhr die Gatower Straße hinauf Richtung Norden. Obwohl die Straße parallel zur Havel verlief, konnte er nur selten einen Blick auf den Fluss erhaschen, der hier die Breite eines Sees hatte und auf dem Ruderregatten ausgetragen wurden, seitdem den West-Berlinern und den bundesdeutschen Vereinen die olympische Strecke von 1936 in Grünau nicht mehr zur Verfügung stand. Vom anderen Ufer grüßten die Hügel des Grunewalds und der Kaiser-Wilhelm-Turm. Es war schon Jahre her, dass Wittenbeck den zusammen mit seinem Neffen Siegfried Heideblick bestiegen hatte.

      Er erreichte die endlos lange Heerstraße. Bald war links die Pichelsdorfer Straße zu sehen, die in die Spandauer Altstadt führte. Während es in verschiedenen Stadtteilen, auch im Zentrum, schon das große Straßenbahnsterben gegeben hatte – denn weitsichtige Kommunalpolitiker hatten das große Ziel vor Augen, West-Berlin zu einer autogerechten Stadt zu machen –, zogen auf der Heerstraße die Züge der Linien 75 und 76 auf einem Nebenstreifen noch tapfer ihre Bahn. Auf der Freybrücke ging es nun hoch über die Havel hinweg, auf der noch immer viele Ausflugsdampfer und Sportboote zu sehen waren. Man lästerte, im eingemauerten West-Berlin könne man auf Wannsee und Havel trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen, man bräuchte nur von einem Boot zum anderen zu springen. Unter ihm lag der dichtbewaldete Pichelswerder mit dem Siemens-Erholungsheim und seinen Ruderklubs.

      Wittenbeck überfuhr die Brücke über den Stößensee und die Havelchaussee. Rechts gab es vor dem Scholzplatz noch immer ein Stück echten Grunewald. Hier hatte man im letzten Jahr einen 230 Meter hohen Sendeturm errichtet, damit die westlichen Programme besser in der DDR zu empfangen waren, als es mit dem alten Funkturm ermöglicht gewesen war. Hinter dem Scholzplatz gelangte man zum Postfenn mit seinem Schullandheim und dahinter zum Teufelsberg mit der Abhörstation der Alliierten. Bald sollte dieser aus Trümmern entstandene Berg mit Rodelbahn, Slalomstrecke und Sprungschanze ein bedeutendes Highlight West-Berlins werden. Ein solches war bereits das Le-Corbusier-Haus nahe dem Olympiastadion – West-Berlins Antwort auf Ost-Berlins Neubauten rund um die Karl-Marx-Allee. Es gab so viel zu sehen und zu entdecken, dass Wittenbeck eine Weile von seinen psychischen Nöten abgelenkt wurde.

      Bald kam er zum ehemaligen Reichskanzlerplatz, der im Dezember des letzten Jahres nach dem gerade verstorbenen Theodor Heuss benannt worden war. Dort brannte die «Ewige Flamme» als Denkmal für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Wittenbeck bog in die Masurenallee ein, und zwischen dem dunkelrot geklinkerten Funkhaus des Senders Freies Berlin und den Messehallen am Funkturm hindurch fuhr er auf die Neue Kantstraße. Weiter unten zog sich schon ein Stummel der neuen Stadtautobahn entlang, aber die reichte im Süden nur bis zum Hohenzollerndamm und brachte ihm nicht viel, wenn er nach Kreuzberg wollte. So musste er die West-Berliner Innenstadt durchqueren. Die Straßenschilder flogen an ihm vorüber: Savignyplatz, Tauentzien-, Kleist-, Bülow-, Goeben-, Yorck- und Gneisenaustraße. Endlich war er am Südstern angelangt.

      Seine Firma, die Pulmo Sanitatem Berlin GmbH, befand sich in den Höfen, die in dem Winkel zwischen der Hasenheide und der Körtestraße lagen und von beiden Straßen aus betreten werden konnten. Hier waren um die Jahrhundertwende mächtige Fabrikgebäude entstanden, die recht schlicht gehalten und mit weißglasiertem Klinker verkleidet waren, der von Ornamenten aus grünen Kacheln durchbrochen wurde. Insgesamt gab es vier Innenhöfe. Dem Besucher fielen zuerst eine Villa im zweiten Hof und ein Glasgang im dritten Hof auf, der auf Höhe der ersten Etage die Gewerbehöfe mit der Villa verband. Und hoch über diesem Glasgang in der dritten und vierten Etage waren die Büro- und Fabrikationsräume der PSB untergebracht.

      Wittenbeck suchte die nötigen Schlüssel heraus, um mit dem Außenfahrstuhl nach oben zu fahren. In seinem kleinen Reich angekommen, war ihm die sonntägliche Stille ganz ungewohnt, weil hier doch sonst große Geschäftigkeit herrschte. Er ging einen langen Flur hinunter, um sein Büro aufzuschließen, sich an den Schreibtisch zu setzen und die Liste mit den Apotheken durchzugehen, die man demnächst als Kunden gewinnen wollte.

      Da sah er plötzlich einen Schatten die Wand entlanghuschen – und Sekundenbruchteile später auch den, der ihn geworfen hatte. Ein Einbrecher. Maskiert. «Halt! Oder …», rief er und verstellte dem Mann den Weg. Der zögerte nicht, ihn mit seinem Messer niederzustechen.

       ZWEI

      SIEGFRIED HEIDEBLICK war 1929 in Neukölln auf die Welt gekommen und hatte den Kiez um den Hermannplatz auch nie verlassen, obwohl er wusste, dass Neukölln auf der Skala der zwölf West-Berliner Bezirke ganz weit unten stand, nur Kreuzberg und Wedding galten weniger. Früher hatte man noch auf die Menschen herabblicken können, die im Scheunenviertel am Alexanderplatz, den Straßen um den Schlesischen Bahnhof und in der «Parochialritze» gelebt hatten. Doch das lag ja nun alles in Ost-Berlin, also sozusagen im Ausland, und zählte nicht mehr. Bis 1912 hatte Neukölln den Namen Rixdorf getragen. Dann hatten einige Rixdorfer Bürger gemeint, der Name ihres Ortes sei zu sehr mit proletarischen Vergnügungen verbunden, und man hatte beschlossen, sich in Neukölln umzubenennen.

      Heideblick wohnte in einem alten Wohnhaus in der Hobrechtstraße, Ecke Lenaustraße, das den Krieg überstanden hatte. Schon vor einiger Zeit hatte er sich ein Grundstück draußen in Rudow gekauft, und seine Frau drängte ihn, dort endlich zu bauen. Doch er vertröstete sie Jahr für Jahr mit den Worten: «Wenn es mit der Firma wieder besser geht.»

      Er hatte das Unternehmen Möbel-Heideblick in der Karl-Marx-Straße von seinem Vater geerbt. Doch im Augenblick liefen die Geschäfte schlecht. Wer im Krieg ausgebombt worden war, hatte sich schon längst neue Möbel gekauft, später auch noch Musiktruhe, Fernseher, Kühlschrank und Waschmaschine. Jetzt boomten das Auto- und das Reisegeschäft. Zudem war die Konkurrenz zu stark geworden. Heideblick versuchte es seit einiger Zeit mit der Bestuhlung von Kino- und Theatersälen, aber das hatte ihm die leeren Kassen auch noch nicht gefüllt. Die Werbesprüche Heideblick verhilft auch dir zum häuslichen Glück oder Möbelglück durch Heideblick hatten nicht den erhofften Erfolg eingebracht. Seine Frau Ute machte sich hin und wieder darüber lustig. Auch heute fragte sie spöttisch: «Siegfried Heideblick, verhilfst du mir mal wieder zum häuslichen Glück?»

      «Das werde ich tun», brummte er, «und zwar, indem ich dich gleich verlasse und zum Fußball gehe.»

      Ute lachte bitter. «Gut, dann kann ich ja in Ruhe zu meiner Mutter gehen.»

      Mit Letzterer war Ute sowieso zum Kaffeetrinken verabredet. Sie verabschiedete sich mit einem Küsschen und machte sich auf den Weg. Heideblick blieb allein zurück und nahm sich noch einmal die Baupläne und Kalkulationen für «Bad Rudow» vor, wie er das geplante Eigenheim gern nannte. Gott, das war im Augenblick kaum finanzierbar! Doch Ute freute sich so auf ein Haus im Grünen.

      Nach einer guten halben Stunde angestrengten Brütens packte er schließlich alle Unterlagen wieder zusammen und verließ die Wohnung, um zum Fußball zu gehen. Fußball war sein Lebensinhalt. Das wussten auch seine Angestellten, die ihm zum fünfzigjährigen Firmenjubiläum eine Zeichnung geschenkt hatten, auf der sein Kopf aus einem Fußball bestand. Als geborener Neuköllner war er eigentlich verpflichtet, Fan von Tasmania 1900 zu sein, die auch gerade wieder Berliner Meister geworden waren. Doch sein Herz schlug mehr für den 1. FC Neukölln, für den er einmal selbst gespielt hatte. Von der Bundesliga hielt er nicht viel, denn Hertha BSC war in der Saison 1963 / 64 gerade einmal auf Platz vierzehn gelandet. Eine Schande für West-Berlin! Deutscher Meister war der 1. FC Köln geworden. Wenn schon nicht Neukölln, dann immerhin Köln, dachte sich Heideblick. Die Ost-Berliner hatte es auch nicht besser getroffen, denn in der DDR war die BSG Chemie Leipzig Meister geworden.

      Heideblick erreichte die Haustür und wollte sie schwungvoll aufreißen, doch irgendein Scherzbold hatte sie am helllichten Tage abgeschlossen. Um sie zu öffnen, musste er sein Schlüsselbund aus der Hosentasche ziehen und den Durchsteckschlüssel aus der Halterung lösen. Er verfluchte das Ding, das

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