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bekam man den Schlüssel nicht wieder heraus. Nur der Hauswart hatte einen Spezialschlüssel. Also ging der Scherz wohl auf Konto dessen Sohns.

      Heideblick besaß zwar zwei mit Reklame verzierte Lieferwagen, doch er hatte nie Lust gehabt, einen Führerschein zu machen. Und seinen Fahrer am Sonntag von Reinickendorf, wo der wohnte, nach Neukölln zu bestellen, hätte nur Ärger gebracht. Heideblick mochte auch nicht zur Haltestelle Sonnenallee, Ecke Hermannplatz gehen, um mit der Straßenbahn 95 zu fahren. Deshalb entschied er sich fürs Laufen. Schließlich tat er somit auch etwas für seine Gesundheit. Die Strecke von seinem Mietshaus bis zum Hertzbergplatz betrug gut zweieinhalb Kilometer. Die schaffte er spielend. Doch die Weserstraße, in die er nach ein paar Schritten einbog, war das, was sein Verkäufer, der aus Bremen stammte, einen «langen Jammer» nannte. Fast schnurgerade zog sie sich vom Kottbusser Damm bis zur Ringbahn am Bahnhof Sonnenallee.

      Endlich hatte Heideblick den Hertzbergplatz und mit ihm das mehr als bescheidene «Stadion» des 1. FC Neukölln erreicht und seinen Stammplatz auf der westlichen «Tribüne» eingenommen, einen Stehplatz natürlich. Von hier aus hatte man einen weiten Blick Richtung Osten. Alle naselang tauchten die Maschinen der Pan Am und der BEA am Berliner Himmel auf, scheinbar aus dem Nichts kommend, und hatten schon die Räder ausgefahren, um wenig später in Tempelhof zu landen. Nachdem man West-Berlin eingemauert hatte, waren die drei Luftkorridore in Richtung Nord, West und Süd fast wieder so wichtig wie zu Blockadezeiten.

      Jedes Flugzeug habe damit, so hatte es ihm seine vielseitig gebildete Tante Gisela aus Kladow einmal erklärt, die gleiche Bedeutung wie beim Cargo-Kult der Melanesier. Die hätten nämlich, als die ersten Flugzeuge hoch über ihren Köpfen aufgetaucht waren, geglaubt, ihre Ahnen wären aus Gräbern gestiegen, um ihnen wertvolle Waren aus dem Westen zu bringen.

      Das Spiel begann, und Heideblick feuerte die «95er» in ihren blauen Hosen und gelben Hemden nach Kräften an. Bei jeder Spielunterbrechung wanderte sein Blick zum riesigen Komplex des Gaswerks Neukölln, das sich von der Sonnenallee bis zum Neuköllner Schifffahrtskanal zwischen dem Bahndamm und einer Laubenkolonie erstreckte. Gas brauchte man für die Herde und Thermen in den Wohnungen, für die Straßenlaternen, und wer unglücklich war … Doch an diese Einsatzmöglichkeit wollte er lieber nicht denken.

      Kriminaloberkommissar Otto Kappe war eigens zum Zeitungskiosk am Kaiserdamm gelaufen, um sich den Telegraf zu kaufen. Denn heute sollte endlich der lange geplante Artikel über ihn und die Berliner Kripo erscheinen. Er konnte es nicht abwarten, bis er wieder zu Hause war, sondern fing schon auf dem Heimweg zu blättern an. Und tatsächlich fand er den Artikel mit dem Foto. Die Überschrift lautete: Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut Wie Hermann Kappe, so der Neffe Otto.

       Wir besuchen Kriminaloberkommissar Otto Kappe, 53, in seinem Büro in der Gothaer Straße. Er beugt sich nicht über einen Mann, der gerade erschossen worden ist, sondern über einen dicken Aktenordner. «Ich kümmere mich gerade um einige nasse Fische», erklärt er uns mit dem ihm eigenen Humor. «Das liegt daran, dass ich aus einer Fischerfamilie stamme, Wendisch-Rietz am Scharmützelsee.» Was «nasse Fische» sind, erfahren wir später: ungelöste Fälle. Immer wenn kein aktueller Mordfall anliegt, befassen sich die Beamten der Mordkommission mit ungelösten Fällen – vielleicht ist ja von den Kollegen doch etwas übersehen worden. Otto Kappe ist in Berlin geboren. Wie sein Onkel Hermann, Kriminalober kommissar a. D., ist er zuerst zur Schutzpolizei gegangen und von dort dann zur Kripo gekommen. 1938 hat er den Kommissarslehrgang in Charlottenburg absolviert, ist dann aber ins Abseits geraten, weil er nicht in die NSDAP und die SS eintreten wollte, und hat seinen Dienst in Litzmannstadt, heute Łódź, antreten müssen. Als seine Frau Gertrud dann schwanger wurde, durften sie wieder nach Berlin zurückkehren, wo auch der Sohn Peter zur Welt gekommen ist. Nach dem Krieg hat Otto Kappe zuerst beim englischen Sektorassistenten am Kaiserdamm gearbeitet, 1952 ist er dann zu einer der Mordkommissionen versetzt worden, sozusagen als Belohnung dafür, dass er mit einem Kollegen zusammen einen der Ganoven fassen konnte, der am Raub in der Eisenbahnverkehrskasse Unter den Linden beteiligt gewesen war.

       1956 wurde Otto Kappe vom Dienst suspendiert, weil man ihn verdächtigte, bei einer Polizeirazzia aus niederen Beweggründen eine Frau niedergeschossen zu haben. Zusammen mit seinem Onkel Hermann stellte er aber Nachforschungen an und konnte seine Unschuld beweisen.

       Hermann Kappe, Jahrgang 1888 und schon lange pensioniert, lobt seinen Neffen in den höchsten Tönen. Er sei intelligent, redegewandt und feinfühlig. Der Meinung sind auch Otto Kappes Kollegen, zum Beispiel sein Kriminalassistent Hans-Gert Galgenberg, dessen Großvater Gustav schon bei der Kripo gewesen ist.

      Otto Kappe freute sich über das, was über ihn geschrieben worden war. Und am Kaffeetisch pflichtete ihm seine Frau Gertrud, nachdem sie alles überflogen hatte, bei. Schmunzelnd variierte sie den berühmten Spruch von Descartes: «Ich stehe in der Zeitung, also bin ich.»

      «Nun ja …» Otto machte eine etwas hilflose Geste und gebrauchte einen Begriff, den sein Sohn Peter schon öfter verwendet hatte, der an der FU Psychologie studierte. «Das ist nun mal meine narzisstische Bedürftigkeit.»

      Gertrud konnte sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen. «Dabei magst du doch den SPD-nahen Telegraf eigentlich gar nicht, die Morgenpost ist schließlich dein Leib- und Magenblatt.»

      Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Wohnungstür, und Otto brauchte den Dialog, der ihm doch ein wenig peinlich war, nicht fortzusetzen. Es war Peter, der bei einem Freund übernachtet hatte und sie nun zum gemeinsamen Zoobesuch abholen wollte, aber auch noch gern eine Tasse Kaffee mit ihnen trank.

      Peter erzählte ihnen, dass er eigentlich gar keine Zeit für einen Ausflug habe, da er an einem Referat über David McClelland sitze.

      Sein Vater sah ihn lächelnd an. «Spielt der in London bei Tottenham oder Arsenal?»

      «Vater, das ist ein US-amerikanischer Sozialpsychologe, der in seinem Buch The Achieving Society herausarbeitet, dass die menschliche Motivation drei dominante Bedürfnisse umfasse: erstens das Bedürfnis nach Erfolg, zweitens das Bedürfnis nach Macht und drittens das Bedürfnis der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die subjektive Bedeutung jedes Bedürfnisses variiert von Individuum zu Individuum und hängt auch vom kulturellen Hintergrund des Einzelnen ab.»

      «Das hätte ich auch ohne jahrelanges Psychologiestudium an der FU zusammenbekommen», murmelte Otto.

      Sein Sohn grinste. «Und was ist der TAT?»

      Da musste Otto nicht lange überlegen. «Der Tathergang aus Tätersicht.»

      «Denkste! TAT ist der Thematische Auffassungstest von Murray und Morgan, den McClelland weiterentwickelt hat. Bei diesem Test werden den Probanden Schwarz-Weiß-Fotografien vorgelegt, zu denen sie sich Geschichten ausdenken sollen: Was führte zu der gezeigten Situation? Was geschieht gerade? Was fühlen und denken die abgebildeten Personen? Wie ist der Ausgang der Geschichte? Ein Beispiel: Man zeigt zwei Probanden ein Bild von einem Paar, das sich gerade streitet. Der eine äußert: ‹Sie werden sich gleich wieder versöhnen und miteinander ins Bett gehen.› Und der andere sagt: ‹Der Mann wird die Frau gleich umbringen.› Die Antworten erlauben Rückschlüsse zur Psyche der beiden.»

      Otto nickte. «Natürlich. Aber was, wenn nun einer sagt: ‹Erst geht er mit der Frau ins Bett und dann bringt er sie um›?»

      «Dann ist das Sache deiner Mordkommission.»

      Gertrud unterbrach die beiden. «Genug mit euren Albereien! Wir gehen jetzt in den Zoo.»

      Seit der Spaltung Berlins besaßen beide Stadthälften ihren eigenen Zoo: West-Berlin den Zoologischen Garten, eröffnet 1844, und Ost-Berlin seit 1955 den Tierpark am Schloss Friedrichsfelde.

      Der Zoo West hatte seinen Haupteingang am Hardenbergplatz, und dort trafen sich zur abgesprochenen Zeit fünf Mitglieder der Familie Kappe: Otto mit seiner Frau Gertrud und ihrem Sohn Peter und Hermann mit seiner Frau Klara. Deren drei Kinder waren nicht dabei. Margarete war gerade verreist, Hartmut lebte in Ost-Berlin, und Karl-Heinz, das schwarze Schaf der Familie, war irgendwo untergetaucht. Dann gab es da noch Hermann Kappes

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