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Mann erhob keine Einwände, das Essen wirkte offenbar beruhigend auf die beiden. Was sie auf den Tellern hatten, sah gut aus.

      »Frische Grütze mit Brot«, erklärte ihre Bekannte, als sie Leos hungrigen Blick sah. »Köstlich!«

      Leo holte sich eine Portion und setzte sich zu ihnen. Sie stellten einander vor: Lina … Kurt. – Leo. – Sehr erfreut.

      Was eine Lüge war, denn zumindest Kurt schien nicht unbedingt |63|entzückt über ihre Anwesenheit. Er schwieg und aß. Lina war wesentlich mitteilsamer als ihr Mann, vielleicht auch einfach nur froh über die Ablenkung. Sie weihte Leo ohne Umschweife in ihre Lebensumstände ein.

      »Es ist ein Glück, sage ich immer, dass wir nicht mehr arbeiten müssen. Diesen Markttag kann man sich doch einfach nicht entgehen lassen. Früher, als wir noch zur Schule mussten – wir sind Lehrer, wissen Sie – da …«

      »Wir waren Lehrer«, korrigierte Kurt, ohne aufzublicken.

      »Ich habe Geografie und Geschichte unterrichtet«, fuhr Lina hastig fort, »und Kurt, mein Mann, Deutsch und Kunsterziehung. Am Wilhelm-Busch-Gymnasium. Kennen Sie Stadthagen?«

      »Ich bin heute Morgen an Ihrer Stadt vorbeigeradelt, auf dem Weg von Hannover.«

      Lina bekam große Augen.

      »Mit dem Fahrrad? Sie sind mit dem Fahrrad gefahren? Den ganzen Weg bis hierher?« Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

      Mit einem Teller warmer Grütze im Bauch war Kurt imstande, dünn zu lächeln. Wie seine Frau war er ziemlich rundlich. Die randlose Brille rutschte ihm ständig von der Nase; mit einem energischen Zeigefinger schob er sie wieder zurück. Sein sandfarbenes Haar hatte er akkurat gescheitelt, die Fingernägel sorgfältig manikürt. Wenn er sprach, dann zwar leise, aber schneidend. Und seine Augen … Leo stellte sich vor, wie er eine renitente Klasse von pubertierenden Halbwüchsigen mit einem einzigen Blick zum Schweigen brachte.

      Lina sah sich um. »Ist es nicht einfach nett hier? So dörflich. So locker und ungezwungen. Und dieses Gemeinschaftsgefühl! Wie früher! Als wäre die Zeit stehen geblieben, finden Sie nicht auch?«

      Der verächtliche Blick, mit dem Kurt seine Frau bedachte, ließ Leo frösteln.

      »Seit wann gibt es diesen Markt?«, erkundigte sie sich, ohne auf Linas Frage einzugehen. »Stammt der noch aus der Zeit von Wilhelm Busch?«

      |64|»In der Tat«, sagte Kurt, zwang seine Brille auf die Nasenwurzel zurück und begann zu dozieren. »Er war schon zu Buschs Zeiten überregional bekannt als Heiratsmarkt. Nach getaner Arbeit hatten die Leute endlich Zeit, sich nach einem geeigneten Partner umzusehen. Hier in Wiedensahl traf sich das heiratswillige Jungvolk.«

      Herrje, wie aufregend. In der nächsten halben Stunde wurde Leo lückenlos über die Geschichte Wiedensahls im Allgemeinen und Ursprung und Tradition des Martini-Marktes im Besonderen aufgeklärt. Nichts davon schien in irgendeinem Zusammenhang mit Onkel Ludwig und dem mysteriösen Treffpunkt zu stehen. Und dass ihr Onkel hier ein Rendezvous gehabt hatte, konnte sich Leo nur schwer vorstellen.

      »Was ebenfalls zum Markt gehört«, schloss Kurt, »und zum Abschluss dieses Essens keinesfalls fehlen darf, ist ein ordentlicher Grüner.«

      Er ging zur Theke und kam mit einem Tablett zurück, auf dem drei Schnapsgläser standen. Eine dunkelgrüne Flüssigkeit schwappte darin.

      »Ein echter Bitter, Markenzeichen der Region«, erklärte er und stellte ein Glas vor Leo hin.

      »Luft anhalten und austrinken.«

      Leo kippte das Gebräu gehorsam hinunter.

      Brrrr. Teufel auch! Was für ein Zeug. Sie musste unbedingt eine Flasche davon kaufen.

      »Stammt aus Stadthagen. Hat schon der alte Busch getrunken«, behauptete Kurt, leerte sein Glas und bleckte die Zähne.

      Leo sah auf die Uhr. Sie hatte nur noch eine Viertelstunde Zeit.

      »Kennen Sie zufällig die Backstube? Die soll hier im Ort sein.«

      Da war er wieder, der eiskalte Blick. Kurt schwieg, und Lina antwortete an seiner Stelle.

      »Ich weiß nicht … ich glaube nicht.« Sie klang unsicher.

      »Meine Liebe, denk doch einmal nach, bevor du redest«, sagte ihr Mann in einem Tonfall, der alle Pluspunkte, die er sich in Leos |65|Augen in den letzten dreißig Minuten verdient hatte, wieder löschte.

      »Leo meint natürlich die Backstube, nicht wahr?«

      Lina wirkte eher überrascht als gekränkt. Sie sagte nichts mehr.

      »Der Bäcker neben der Kirche«, erläuterte Kurt. »Wenn Markt ist, wird das ganze Haus zum Café umgewandelt – der Laden, der Flur, das Wohnzimmer. Sogar in der Backstube haben sie Tische und Stühle aufgestellt, daher der Name. Wirklich urig, ein echter Geheimtipp.«

      Also stand das C auf dem Zettel tatsächlich für ein Café. Leo war sehr gespannt, was sie dort erwartete.

      »Bestimmt laufen wir uns noch ein Dutzend Mal über den Weg«, sagte Lina hoffnungsvoll, als Leo sich verabschiedete. Es war deutlich, dass sie mit ihrem Mann heute nicht gern allein sein wollte.

      Draußen war es noch kühler geworden, die Sonne hatte sich hinter einem Wolkenschleier verborgen. Leo schlenderte die Dorfstraße in der von Kurt angegebenen Richtung hinunter. Es waren immer noch unzählige Menschen unterwegs, aber die Atmosphäre hatte sich geändert. Das lag nicht nur daran, dass der Himmel nun fahlgrau war. Leo hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sie zwang sich, noch einige Schritte ruhig weiterzugehen und drehte sich dann rasch um. Vergeblich durchbohrte sie die Menge mit ihren Blicken. Waren vielleicht bloß Lina und Kurt hinter ihr? Aber sie konnte sie nicht entdecken.

      Dann hatte sie die Backstube erreicht. Leo sah sich das Haus an: kein ehemaliger Bauernhof, sondern ein einfaches zweistöckiges Backsteinhaus. Unten befand sich das Bäckereigeschäft mit Stehcafé. Keine Galerie, kein Museum, keine Veranstaltungseröffnung. Hierher war Ludwig bestellt worden?

      Entschlossen drückte sie die Tür auf und prallte erst einmal zurück.

      Gleich der erste Raum war gesteckt voll. Vor dem Verkaufstresen des Ladens drängten sich die Kunden. Leo quetschte sich an der Schlange vorbei und warf einen flüchtigen Blick nach links in |66|einen altmodisch eingerichteten Raum mit Plüschsesseln und runden Tischchen, die voll besetzt waren. Das musste das Wohnzimmer der Familie sein, ganz so, wie Kurt es beschrieben hatte. Leo schaffte es mit Sturheit und Ellbogeneinsatz auf den Flur hinter dem Laden, der ebenfalls als Bewirtungsmöglichkeit genutzt wurde. Eine Seitentür stand offen und gab den Blick auf den Hof frei, über den von einer unsichtbaren Quelle aus emsig neue Kuchenbleche und Kaffeekannen herbeigeschafft wurden. Unmittelbar vor Leo schrammten zwei Frauen und ein Mann dicht an der Wand entlang, um keine Tassen und Teller umzureißen oder Tische umzustoßen. Sie folgte ihrem Beispiel und erreichte schließlich glücklich das Herz des Ganzen, die berühmte Backstube.

      Leo erkannte einen gekachelten Arbeitsraum mit gewaltigen Maschinen wie einem überdimensionalen Rührgerät, einen riesigen Ofen und etwas, das aussah wie ein Kessel, in dem man locker zwanzig Kilo Wäsche hätte kochen können. Überall dazwischen standen Bänke, Stühle und Tische. Die frisch gestärkten weißen Laken darauf lenkten nur wenig von den zweifelhaften braungelben Flecken an der Decke, dem ungekachelten Teil der Wände und in den Ritzen und Fugen rings um die Fenster ab.

      Von einer nachdrängenden Gruppe wurde Leo weiter in den Raum geschoben. Auch hier war jeder Tisch umlagert. Die Neuangekommenen beharrten auf ihrem Standrecht und warteten auf freie Plätze.

      Leo spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Und dafür war nur zum Teil die stickige Hitze verantwortlich, die in der Backstube herrschte. Die heimlichen Augen waren wieder da. Irgendwo hinter ihr.

      Leo verrenkte sich den Hals, um etwas sehen zu können. Sie war so eingekeilt, dass sie sich nicht umdrehen konnte. Eine Frau tippte ihr auf die Schulter.

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