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und Schornsteinen und einen schwachen Dunst von Bratöl, der von Wang Lis Küche hochstieg. In Ostermanns Wohnung ging das Licht an. Sein Balkon mit dem Zugang zur Feuerleiter lag direkt unterhalb ihrer Dachterrasse. Sie betrachtete das kleine Tor, das am linken Ende der Brüstung schief in den Angeln hing. Die Eisenstäbe waren rostig. Es quietschte leise, als sie es bewegte. Unten wurde die Balkontür geöffnet und wieder geschlossen. Eine Jalousie ratterte herunter.

      Die Fliesen auf dem Boden und der Brüstung glänzten feucht vom Regen. Wie in der Nacht von Onkel Ludwigs Sturz, dachte Leo. Sie beugte sich über den Rand, sah hinab in den Hof und versuchte, die Höhe abzuschätzen. Drei Stockwerke. Fünfzehn Meter, vielleicht auch etwas mehr. Nicht überwältigend hoch, wenn man von unten hinauf sah, aber brutal tief, wenn man hinunterstürzte.

      Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Dann sah sie sich |54|die Wände an den Enden der Terrasse genauer an. Rechter Hand befand sich eine Dachgaube mit dem Schlafzimmerfenster. Auf der linken Seite gab es eine zweite Gaube, die vom Bad abführte. Was Paul Ostermann als Sims bezeichnet hatte, war vermutlich das spitze Gaubendach. Wenn Leo sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie das obere Ende gerade eben erreichen.

      Niemand in ihrer Familie war besonders groß gewesen, Onkel Ludwig auch nicht. Aber er war nicht so klein wie sie. Er hätte nicht unbedingt auf die Brüstung steigen müssen, um den verdammten Raben zu fangen. Warum hatte er nur so einen Blödsinn gemacht? Weil er betrunken war? Konnte ein Betrunkener wirklich so schnell klettern, dass es unmöglich war, ihn zurückzuhalten?

      Noch etwas beschäftigte sie. Paul Ostermann hatte erzählt, dass Ludwig Heller verreist war. Leo wusste, dass ihr Onkel es gehasst hatte, ohne Not den Aufenthaltsort zu wechseln. Er verabscheute Züge, Koffer und Hotels. Wo war er gewesen?

      ***

      |55|Wiedensahl, den 20 ten Mai 1853

       Ich bin so in Sorge! Keine Nachricht mehr, seit Wilhelm nach Antwerpen gereist ist, um an der Königlichen Akademie der Künste zu studieren. Bald ein Jahr ist vergangen, und nun höre ich das Gerücht, er sei an Typhus erkrankt. Ich bete, es möge nur dummes Geschwätz sein. Den Waschweibern gefällt es, mich in Aufregung zu sehen.

       Ach, es ist ein Fluch, ein Weib zu sein! Wäre ich ein Mannsbild, könnte ich unbehelligt durch die Welt reisen, müßte nicht zu Hause sitzen und auf Nachricht von draußen warten! Es macht mich wahnsinnig, Wilhelm in der fremden Stadt zu wissen, Krankheit hin oder her. Die niederländischen Mädchen seien drall und lebenslustig, heißt es, und fänden Gefallen daran, abends auf den Straßen zu flanieren. Ich frage mich, was er jetzt gerade treibt.

      -4-

      Noch vor der Morgendämmerung brach Leo auf. Als sie an der Wohnung im zweiten Stock vorbeikam, meldete sich die Bulldogge mit einem kurzen Bellen. Hoffentlich weckte das Viech nicht das ganze Haus auf.

      Draußen war alles ruhig. Durch den Dunstschleier der Stadt sah der Himmel aus wie ein gigantischer Saphir, den jemand leicht angehaucht hatte. Leo zog ihren Schal enger. Es war so kalt, dass ihr Atem weiß in der Luft stand.

      Das Fahrrad wartete wie ein treuer Gaul in seinem Stall unter der Feuertreppe. Leo schnürte die Gepäcktaschen fest und zog die Plastiktüte vom Sattel. Aus dem Haus erklang leise und fragend der dünne Jammerlaut eines Babys. Das Weinen steigerte sich zu einem empörten Schreien, als niemand reagierte. In einem Fenster im ersten Stock ging schließlich das Licht an und der Umriss einer jungen Frau erschien. Das Baby verstummte.

      Leo schob ihr Rad durch den Torbogen zur Linde. Der Lieferwagen parkte auf der anderen Straßenseite. Sie tätschelte den |56|Lindenstamm und flüsterte dem Baum ein paar aufmunternde Worte zu.

      Am östlichen Horizont verfärbte sich der Himmel allmählich rötlich. Leo fuhr in ruhigem, gleichmäßigem Tempo und dachte an nichts. Während ihr Weg sie nach Westen führte, ging in ihrem Rücken die Sonne auf. Auf der dunklen Erde lag Nebel, den die ersten Sonnenstrahlen in einen goldenen Schleier verwandelten. Leo nahm das Blinklicht ab und radelte weiter.

      Der Verkehr wurde lebhafter, ungeduldige Berufspendler und Lieferwagen überholten. Leo näherte sich der Autobahn, die schon zu hören war, lange bevor sie in Sichtweite kam; ein stetiges dumpfes Rauschen in der Morgenluft. Eine Brücke schleuste die Blechkarawane über die Landstraße hinweg, Metall glitzerte in der Sonne. Leo raste unter der Brücke hindurch und strampelte auf der anderen Seite wieder hoch, froh über jeden Meter Entfernung, den sie zwischen sich und die A 2 legte.

      Ihr wurde warm; sie zog die Mütze vom Kopf und schob sie in eine Jackentasche. Bei Bad Nenndorf machte sie die erste Pause und sah auf der Karte nach. Die Hälfte der Strecke hatte sie geschafft. Sie trank Pfefferminztee aus der Thermoskanne und aß einen Riegel Schokolade, Leos Geheimwaffen gegen alles. Geballte Ladungen davon hatten ihr durch die harten Zeiten bei »Gartenbau-Meyer u. Sohn« geholfen.

      Ihr letzter Job in Hamburg war ein ziemlicher Albtraum gewesen. Neugestaltung des Klinikparks am Eichfeld: Drei-Mann-Unternehmen zieht Großauftrag an Land! So hatte die Schlagzeile im Hamburger Abendblatt gelautet. Sie schufteten Tag für Tag, am Wochenende und auch in der Nacht. Während normale Menschen in ihren Betten schlummerten, rodete Leo im grellen Licht von Bauscheinwerfern Bäume, grub Wurzeln aus, schleppte Säcke voll mit Torfmull und musste nebenbei noch dumme Sprüche und peinliche Annäherungsversuche vom pickligen Meyer junior kontern. So etwas stand man nur mit Pfefferminztee und Schokolade |57|durch; sehr viel Schokolade. Und dem einen oder anderen Schuss Rum im Tee.

      Es verschaffte Leo eine gewisse Genugtuung, Meyer junior eines Tages mit einer Ladung Hanfpflanzen zu erwischen. Sein Vater war zwar Chef, aber nur mangelhaft über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Cannabis sativa informiert. Im Übrigen hätte er Hanf nicht von Gurkendill unterscheiden können. Sehr gut unterscheiden konnte er dagegen zwischen guter und schlechter Publicity, und ein Auftritt der örtlichen Polizei auf seinem Gelände hätte ihm mit Sicherheit keine Freude bereitet. Unter diesen Umständen fiel es Leo nach ihrer Kündigung (denn wie sich herausstellte, hatte Meyer sie nur angeheuert, um den Klinikpark zu bewältigen) relativ leicht, Senior zum Sponsoring der Fortbildung am Bodensee und Junior zur aktiven Umzugshilfe zu überreden. Mit dem »Heinz Meyer u. Sohn, Gartenbau«-Lieferwagen und einem in die Hanfsache verwickelten Kumpel erledigte Junior die Schlepperei an einem einzigen Tag.

      Das war noch nicht einmal eine Woche her.

      Und was tat sie hier jetzt? Radelte an einem lausig kalten Novembermorgen stundenlang durch die Gegend, um einen ominösen Treffpunkt aufzusuchen und Onkel Ludwigs Geheimnis zu lüften.

      Falls er eines hatte.

      Anscheinend brannte Kommissar Sandved darauf, ihrem Onkel irgendwelche kriminellen Verwicklungen nachzuweisen. Das würde Leo nicht zulassen.

      Im Süden tauchten die Ausläufer des Bückebergs auf. Bei Beckedorf quälte sich Leo über die lange Steigung und schoss auf der anderen Seite wieder hinunter, wobei sie höllisch aufpassen musste, den Autos nicht zu nahe zu kommen. Seit zweieinhalb Stunden war sie nun unterwegs und wurde langsam müde.

      Stadthagen. Endlich! Ab hier begann Wilhelm-Busch-Gebiet. Leo war sicher, dass ihr Onkel alles besichtigt hatte, was zum Umfeld seines Forschungsobjektes gehörte. Nur war er bestimmt nicht mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Sie hielt sich nordwestlich |58|und entdeckte bald die ersten Wegweiser nach Wiedensahl. Die Gegend wurde wieder ländlich, kleine Dörfer wechselten mit weiten Feldern und Wiesen. Auf einigen Weiden standen noch Kühe, ihr Atem dampfte in der schwachen Novembersonne.

      Vor Leo tauchte der Mittellandkanal auf. Von der Brücke aus sah sie den Wald, auf dessen anderer Seite Wiedensahl liegen sollte. Jede Müdigkeit war wie weggeblasen, als sie weiterfuhr. Nach ein paar hundert Metern nutzte sie einen Waldweg, um sich kurz in die Büsche zu schlagen. Als sie wieder aufsteigen wollte, fiel ihr Blick auf eine Vogelfeder im Farnkraut. Blauschwarz blitzte sie zwischen den verwelkten Farnwedeln hervor, in der Mitte hatte sie einen weißen Streifen. Leo hob sie auf. Ein Glücksbringer konnte nicht schaden, denn je näher sie ihrem Ziel kam, desto mulmiger wurde ihr.

      Vielleicht

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