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tun gehabt, die sie lieber nicht kennenlernen wollte. Sie verwünschte Sandved, weil er ihr diese Gedanken in den Kopf gesetzt hatte.

      Plötzlich stutzte sie. Etwas hatte sich verändert. Vor dem Wald war die Straße fast verlassen gewesen, hier und da mal ein Radfahrer, ein Auto oder ein Traktor, der zu den Feldern fuhr. Ihre Seite der Fahrbahn war immer noch leer. Aber in Gegenrichtung kam eine ganze Autoschlange auf sie zu. Es sah merkwürdig aus, wie eine Massenflucht. Wenn die alle aus Wiedensahl kamen, was war dann da los?

      Der Wald lichtete sich, die Straße führte wieder ins Freie und auf einmal wusste Leo die Antwort.

      Bis zum Waldrand parkten Autos, Stoßstange an Stoßstange. Vom Ortseingang Wiedensahls an war die Straße gesperrt. Noch immer wendeten Fahrzeuge und suchten Fahrer vergeblich nach Parkplätzen. Sie rumpelten über Feldwege und stießen hoffnungsvoll bis zur Absperrung vor, bis sie einsehen mussten, dass es keinen Sinn hatte. Dann machten sie kehrt, um sich auf einem anderen Weg anzupirschen. Leos Blick blieb an einer großen Plakatwand hängen:

      |59|Willkommen zum Martini-Markt in Wiedensahl!

      Menschenmassen schoben sich die mit Buden, Zelten und Verkaufsständen aller Art gesäumte Dorfstraße entlang. Leo stand da wie angewurzelt und hielt sich an der Lenkstange fest. Die Buchstaben auf der Notiz. Ma. Martini-Markt, ganz klar. Ein Dorffest, ein Bauernmarkt.

      Und dafür hatte sie sich vier Stunden lang abgestrampelt? Das konnte doch nur ein Witz sein. Was hätte ihr Onkel auf einem ländlichen Marktfest gewollt? Leo dachte an den vermutlichen Treffpunkt, der ihm übermittelt worden war, die Backstube. Wie sollte sie in diesem Getümmel jemanden finden, von dem sie überhaupt nichts wusste, nicht einmal, wie er aussah? Wenn es diesen Jemand überhaupt gab. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass in dieser Backstube Punkt fünfzehn Uhr eine harmlose Veranstaltung begann, eine Festrede, eine Eröffnung von irgendwas.

      Leo schloss das Rad an einen Laternenpfahl und schulterte den Rucksack. Nun war sie einmal hier, also würde sie sich auch umsehen. Elf Uhr. Noch vier Stunden Zeit bis zum Blind Date. Offenbar war sie zur beliebtesten Zeit angekommen, der Markt ging gerade so richtig los. Ein geschwätziges Summen lag in der Luft, und Leo ließ sich von der Menschenmenge mitziehen.

      Wiedensahl war ein lang gestrecktes Dorf, das im Wesentlichen aus der Hauptstraße zu bestehen schien, auf der das Fest stattfand. Zu beiden Seiten der Straße lagen große Bauernhöfe. Ab und zu erhaschte Leo zwischen den Ständen hindurch einen Blick auf altes Fachwerk, blank gefegte Höfe und aufgeräumte Vorgärten. Das Dorf hatte sich herausgeputzt.

      Neben dem Dorfweiher bot ein Korbflechter lautstark seine Waren an. Ein paar Meter weiter pries ein Mann seine frischen Walnüsse. Leo kaufte eine Tüte voll. Nebenan präsentierten zwei junge Frauen ihre Töpferwaren, und es duftete nach gebrannten Mandeln. Leo schaute, hörte, schnupperte und versuchte, sich Onkel |60|Ludwig inmitten des Trubels vorzustellen. Hätte er es genossen?– Ihr gefiel es.

      Die Dorfstraße war so vollgestopft, dass sie nur flüchtige Blicke auf die Gebäude zu beiden Seiten werfen konnte. Ein Ort namens Backstube war nirgends in Sicht. Leo ließ sich bis zum Ende des Marktabschnitts treiben und nutzte die Gelegenheit, um unter der Absperrung hindurchzuschlüpfen. Hinter den Höfen zu beiden Seiten der Dorfstraße verlief jeweils ein schmaler Fahrweg. Leo beschloss, auf beiden Wegen einmal entlangzugehen.

      Das erste, was sie zu sehen bekam, war Land. Und das zweite: noch mehr Land. Auf der einen Seite des Weges lagen die Felder, auf der anderen die Gärten; sehr groß, sehr ordentlich und schon für den Winter vorbereitet. Nichts, was sie unbedingt hätte fotografieren wollen. Hinter einer Abzäunung erregte sich eine Gänseherde über ihr Kommen. Martinsgänse; in ein paar Wochen würden sie schon in einer Tiefkühltruhe liegen und auf Weihnachten warten. Leo machte ein Foto von ihnen auf ihrer Gänsewiese und ging schnell weiter, um sie nicht noch mehr zu ärgern.

      Immer noch kamen Autos, Motorräder und Traktoren über die Feldwege heran und parkten auf dem abgeernteten Land. Ein uralter hellblauer VW-Käfer mühte sich durch die Schlaglöcher und tiefen Traktorspuren. Drinnen saß ein älteres Ehepaar. Die Frau nickte Leo zu, der Fahrer blickte starr geradeaus.

      Im Weitergehen bemerkte Leo eine Lücke zwischen den großen Höfen. Zwischen Kastanienbäumen stand eine kleine Kate, ein hübsches Fachwerkhaus mit einem großen Garten. Offenbar war das Gebäude erst vor kurzem saniert worden, ein beträchtlicher Teil des Gartens war den Baumaßnahmen und Erdräumarbeiten zum Opfer gefallen. Das Gras war zerwalzt, tiefe Furchen eines Kettenfahrzeugs durchzogen das Land und herausgerissene Büsche lagen auf einem traurigen Haufen.

      Aber der Rest! Und das Haus!

      Versonnen stand Leo da. Der alte Apfelbaum im Zentrum musste bleiben, die Kastanien, die das Haus bewachten, natürlich auch. |61|Dort drüben, bei den Kirschbäumen, gehörte ein Teich hin, ein Naturteich mit Schilfgürtel und Sumpfzone. Und dahinter, wo die Heckenrosen standen, da konnte der Gemüsegarten beginnen. Sie würde einen schmalen Weg anlegen, er würde von der Terrasse in den Garten führen und den Wohnbereich mit dem Freibereich verbinden. Natursteine müssten es sein, im Halbrund gelegt und …

      Blödsinn. Wach auf, Leo. – Aber sie konnte ja wenigstens ein paar Bilder mitnehmen. Leo fotografierte die Kate und den Garten von allen Seiten, ehe sie sich endlich losreißen konnte.

      Ein Querweg führte vom Fahrweg weg zurück zur Dorfstraße. Unvermittelt stieß Leo auf das nächste Kleinod, eine weitere kleine Kate mit winzigen Fenstern und tief hängendem Dach, dahinter ein Miniaturgarten mit niedrigen Buchsbaumhecken. Vor dem Haus eine hohe Birke, deren Blätter golden schimmerten. Neben der grün gestrichenen Eingangstür eine grüne Bank und an der Hauswand ein schmiedeeisernes Schild mit den Figuren von Max und Moritz, die durch den Schornstein der Witwe Brathähnchen vom Herd angelten. Leo las die Inschrift: Wilhelm-Busch-Museum. Das Geburtshaus.

      Sie drückte die Klinke herunter. Das Museum war geschlossen. Enttäuscht spähte sie durch die Scheiben und legte die Hände an die Augen, um besser sehen zu können.

      »Können Sie sich vorstellen, in diesen winzigen Kämmerchen zu leben?«, fragte plötzlich eine Stimme. Leo fuhr zusammen.

      Neben ihr stand die Frau aus dem hellblauen Käfer. Sie war blond und pummelig, trug einen großen Korb am Arm, der schon gut gefüllt war, und schwatzte drauflos, als wären sie gute Bekannte, die sich einmal im Jahr auf dem Markt trafen.

      »An diesen niedrigen Türen stößt man sich doch dauernd den Kopf! Früher müssen die Menschen wohl kleiner gewesen sein. Waren Sie schon mal da drin? Nein? Oh, Sie sind doch hoffentlich nicht extra wegen des Museums hergekommen?«, fragte sie besorgt. »Wenn Martini-Markt ist, ist es immer geschlossen. Das Heimatmuseum bei der Kirche übrigens auch.«

      |62|Ihre Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt, wie ein Programm zur Selbstberuhigung.

      »Mein Mann und ich kommen jedes Jahr hierher«, schwatzte die Frau weiter. »Das darf man sich einfach nicht entgehen lassen! Und immer kaufe ich mehr, als ich eigentlich vorhatte.«

      Nervös rückte sie den Korb an ihrem Arm zurecht.

      »Lina! Wo steckst du wieder?«

      Der Fahrer des Käfers trat aus einer hinter Büschen versteckten Toilettenanlage und wurde ungeduldig, als er seine Frau neben Leo stehen sah.

      »Lass uns was essen gehen, ich habe Hunger.«

      Lina verabschiedete sich hastig. Leo sah den beiden nach. Essen war eine gute Idee. Aber erst musste sie diese Backstube finden. Sie machte noch ein paar Fotos vom Wilhelm-Busch-Haus, ging dann zur Dorfstraße zurück und schlenderte auf beiden Seiten die Gassen hinter den Ständen entlang. Mit Gasthäusern war Wiedensahl jedenfalls gut versorgt. Busch-Keller, Boltes Deele, Steubers Gasthaus, Dörp Kaffee, Gaststätte Ronnenberg, überall drängten Leute hinein und quollen wieder hinaus. Nur eine Backstube war nicht dabei.

      Am unteren Ende der Dorfstraße angekommen, entschied Leo sich für das Zelt eines Bio-Bauern. Drinnen war es warm, und es duftete nach Kaffee, Brot und Gebratenem. An einem der langen Tische, vor denen schlichte Holzbänke

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