ТОП просматриваемых книг сайта:
Hekate. Thomas Lautwein
Читать онлайн.Название Hekate
Год выпуска 0
isbn 9783944180007
Автор произведения Thomas Lautwein
Жанр Религия: прочее
Издательство Автор
Ausdruck solcher Vorstellungen sind die zahlreichen Mythen, in denen die Entstehung der Welt aus der Tötung und Zerstückelung eines Ur-Wesens erklärt wird oder das Opfer eines jungen Lieblings der Göttin notwendig ist, um die Fruchtbarkeit der Erde zu sichern. So wird der Himmel etwa als steinerne Kuppel gedacht, die von einem Helden mit einem Hammer, einer Axt oder einem Vajra (Indra in Indien) zerschlagen wird. Der Stein erscheint geradezu als Manifestation von Schöpferkraft, was sich in zahllosen Steinkulten ausdrück, die auf der ganzen Erde verbreitet sind. Die Geburt des Mithras aus einem Stein ist ein später Widerhall solcher Vorstellungen.
Voraussetzung für neues Leben ist der Tod eines (anfänglich sicherlich freiwilligen) Opfers: die Zerteilung von Kornpuppen, deren Stücke über die Felder verstreut werden, sind ein schwacher Rest solcher ursprünglichen Menschenopfer. Der Mythos von Osiris und Seth spiegelt keinen Mord wieder, sondern ein Kultopfer, das Fruchtbarkeit erzeugt (aus Osiris’ Leib wachsen Pflanzen) – woraus übrigens auch folgt, dass Gott Seth in diesem Mythos nicht einfach nur der „Böse“ sein kann. „Die Zerstückelung eines Urzeitwesens und das daraus Hervorgehen von Kulturpflanzen und Tier ist ein weltweites Mythologem.“ (S. 72). Der Opfertod wird als Hochzeit mit dem Gott oder der Göttin gefeiert, das Opfer wird selbst vergöttlicht und als Bote zu den Göttern geschickt. Teilweise scheinen die Opfer auch lebendig begraben worden zu sein, was man noch aus einer Koranstelle herauslesen kann (Sure 81,7 - 10), die einen vorislamischen Brauch verurteilt.
Das Jenseits ist für den Menschen der Jungsteinzeit kein Ort des Schreckens und auch kein statischer „Himmel“, sondern ein Ort der Wandlung und Entstehung: „Die neolithische Jenseitswelt hatte überhaupt nichts Furchtbares. Es war eine geheimnisvolle, kraftvolle Landschaft, eine entlegene Gegend, in der Einsamkeit, Leere und Kargheit sichtbar wurden. In den Mythen ist sie oft durch Tore, Türen oder Mauern von der Lebenswelt der Menschen getrennt.“15 Beispiele sind die Insel Tirnanog oder das Gebirgsland Maschu im Gilgamesch-Epos. Dieses Jenseits konnte in schamanischen Jenseitsreisen rituell besucht werden, Kultorte und Gräber waren Zugangspforten zur Unterwelt (so noch bei Vergil im sechsten Gesang der Äneis).
Dieses Weltbild kreist um die Gestalt der Göttin, die als Erdgöttin die beiden scheinbar widersprüchlichen Aspekte von Fruchtbarkeit und Vernichtung verkörpert. Nun gibt es in der Steinzeit, wie wir aus den Grabungsfunden wissen, zwei Arten von Göttinnen: zum einen ausgesproche üppige, ausladende Göttinnen, die auf Sitzen thronen und von Löwen begleitet sind, zum anderen dürre, starre Gestalten, die aufrecht stehend die Arme vor der Brust verschränken. Gimbutas deutete letztere als Verkörperung des Mangels und der Angst vor Dürre, Tod usw. Mahlstedt widerspricht und deutet diese „starren Nackten“ als Ausdruck für die Kraft des schöpferischen Todes“16 , die vielmehr die Fähigkeit zur Regeneration verkörpern. Die beiden Göttinnen-Typen würden also die beiden Aspekte der Erd-Göttin verkörpern: in zyklischem Wechsel Mutter und Mörderin zu sein.
Erde, Unterwelt, Geisterwelt
Hekate ist sicherlich eine Nachfahrin dieser steinzeitlichen „starren nackten“ Göttin. Allerdings hat sich ihre Erscheinung im Laufe der Geschichte zweifellos an die Gegebenheiten angepasst; wir müssen insbesondere berücksichtigen, dass ursprünglich matrizentrische Vorstellungen in einen patriarchalen Kontext eingepasst wurden, was dazu führen kann, dass ursprünglich positive Eigenschaften negativ gewertet werden oder ursprünglich sinnvolle Symbole später nicht mehr richtig verstanden oder missdeutet werden. Wenn wir versuchen, Hekates Wesen provisorisch zu umreißen, ergibt sich ungefähr folgendes Bild:
Hekate ist ein Aspekt der großen Erdgöttin. Die Erde steht für alles, was Form und Materie ist; da die weibliche Kraft im Universum die Gestaltgeberin ist, die die ursprünglich ungebundene Energie in eine Form bringt. Die Erde ist auch das Reich der Toten und der Ort der Wiedergeburt: Wenn etwas stirbt, existiert eine subtile Form des Lebewesens weiter, die in die „Unterwelt“ geht und dort aufgesucht oder beschworen werden werden kann. Schon zu Lebzeiten kann sich der subtile Körper von dem grobstofflichen Fleischkörper trennen und im Traum oder in Trance umherwandern; solche Schattenkörper können durchaus Schaden anrichten, weshalb man in der Antike großen Wert darauf legte, sich vor den Seelen der Verstorbenen zu schützen. Der Ort dieser Schattenwelt wird allgemein unter der Erde gedacht. Die Göttin, die diesem Unterweltbereich vorsteht, ist ein Aspekt der Erdgöttin, aber ein eher verborgener, unheimlicher Aspekt, der nicht direkt greifbar ist und das Zwischenreich des Traums, des Todes, des Okkulten, der Hexerei und Magie beherrscht. Dieser Zwischenbereich wird mit der „schwarzen“ Sonne in Verbindung gebracht, die nachts unter der Erde von Westen nach Osten wandert, später wird dieses Reich in den Mond verlegt.
Sehr treffend resümiert der französische Archäologe Alfred Laumonier 1958 in seiner Studie über die einheimischen Kulte im antiken Karien, der Heimat der Hekate:
Der weibliche Aspekt der Gottheit ist die Materie, die Welt der Formen, aber diese lebende Materie ist bald die sichtbare und berührbare physikalische Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen (Demeter, Artemis, Aphrodite), bald die subtile psychische und „strahlende“ Materie (Hekate), bald die geistige Materie (Athene). Und jede der Gottheiten Griechenlands, die ursprünglich die Komplexität eben dieser eminent plastischen Materie wiedergab, hat sich nach und nach auf einen Aspekt dieser gewaltigen Weiblichkeit spezialisiert, die die Hindus insgesamt Maya nannten. (…) Hekate ist die Göttin der untersten unsichtbaren Welt – der Welt der Entkörperten, der gespenstischen Gestalten, der Larven, der unbegrabenen Toten, deren Ausgang und Aktivität die Nacht begünstigt. Aber diese Welt ist auch die sublunare Welt, die „astrale“ Welt des Okkultisten, die Welt des Fegefeuers, in der die schwarze Magie gern arbeitet, die Hexerei. Wie alle Göttinnen ist sie ursprünglich eine chthonische Göttin, weil die Erde die Mutter aller unsichtbaren Formen ist, sie, die auf der Erde durch ihre kondensierende Kraft, durch ihre Passivität, die männlich-aktive, aber sublimierende Kraft der Sonne ausgleicht.17
Das Material: die antike Literatur
Für eine ernsthafte Beschäftigung mit Hekate ist es notwendig, sich zunächst mit den antiken Quellentexten zu beschäftigen. Hierzu stellt uns die Altertumswissenschaft eine Menge an Material zur Verfügung, das durch allerlei Nachschlagewerke hervorragend erschlossen ist (und von der gängigen esoterischen Literatur aber offensichtlich weitgehend ignoriert wird). Günstig ist auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten in der Altertumswissenschaft ein verstärktes Interesse für die magischen und irrationalen Aspekte der antiken Religion bemerkbar macht, „auch unter dem Einfluß eines gesamtkulturellen Interesses an Esoterik, das sich am aufklärungsmüden Ende des (20.) Jahrhunderts breitgemacht hat“18 . Karl Preisendanz, der erste Herausgeber der antiken Zauberpapyri, berichtet hingegen davon, wie sein Lehrer Albert Dieterich 1905 in Heidelberg ein Seminar über antike Magie im Vorlesungsverzeichnis noch mit einem harmlosen Titel tarnen musste, um nicht „unseriös“ zu erscheinen. Der starre Gegensatz zwischen dem „wüsten Aberglauben der Zauberpapyri“ (Wilamowitz-Moellendorf) und der „echten“ Religion der olympischen Götter, den J. G. Frazer („The Golden Bough“) Ende des 19. Jahrhunderts zum Dogma erhoben hatte, spielt heute keine Rolle mehr. Inzwischen hat die Altertumswissenschaft selbstkritisch aufgearbeit, wie stark solche Anschauungen vom Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts (der Magie als unvollkommene Vorstufe von monotheistischer Religion und Wissenschaft sah) und von der christlichen Prägung der Forscher abhingen. Die Debatte über die Funktion und den Stellenwert von Magie, die im 20. Jahrhundert in der Ethnologie geführt wurde (Malinowski, Tylor, Mauss, Evans-Pritchard), brachte auch die Altertumswissenschaftler seit den sechziger Jahren dazu, zunehmend neue Wege zu gehen.