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Vorstellung, dass Weiße sich einen Afro-Haarschnitt zulegen, finden es dieselben Leute aber normal, dass weiße Studentinnen zum »Hijab Day« einen islamischen Schleier anprobieren. Diese von fundamentalistischen Kreisen ausgehende Initiative haben Studentinnen der Sciences Po aufgegriffen und ihren Genossinnen vorgeschlagen, sich einen Tag lang in »Sittsamkeit« zu üben.16 Komischerweise wollte darin keiner der üblichen Inquisitoren die geringste kulturelle Aneignung erkennen.

       Die Zensur antirassistischer Werke

      Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung geben sich nicht damit zufrieden, Stars, Marken und Modenschauen zu verfolgen. Es kommt vor, dass sie sogar die Zensur antirassistischer Werke verlangen.

      Dies passierte der Künstlerin Dana Schutz und ihrem Bild Open Casket. Es ist angelehnt an ein berühmtes Foto, das 1955 aufgenommen wurde, um die brutale Ermordung eines jungen Schwarzen anzuprangern. Der vierzehnjährige Emmett Till war soeben zu Tode geprügelt worden. Seine Mutter verlangte, man solle seinen Sarg offenlassen: »Die Leute sollen sehen, was sie meinem Jungen angetan haben.« Der Anblick seines verunstalteten Gesichts war erschütternd. Dass eine Künstlerin, zumal eine weiße, diesen Eindruck sechzig Jahre später wiederaufnehmen möchte, beweist, dass die Mutter recht hatte, das verunstaltete Gesicht ihres Sohnes zu zeigen. Solcherart politische Intelligenz ist inzwischen abhandengekommen.

      Sobald es bei der Biennale im Whitney Museum in New York ausgestellt wurde, löste das Bild Open Casket einen Skandal aus. »Dieses Gemälde muss weg!« forderten nachdrücklich mehrere afroamerikanische Schriftsteller in einem in der Presse erschienenen Brief. Unter ihnen auch Hannah Black, die geradeheraus verlangte, das Werk zu »vernichten«: »Das Gemälde sollte von niemandem akzeptiert werden, der sich um Schwarze sorgt oder das zumindest behauptet, denn es ist nicht akzeptabel, dass ein Weißer das Leid der Schwarzen in Profit und Vergnügen verwandelt.«17 Welches Vergnügen?

      Diesem inquisitorischen Brief zufolge wendet sich der offene Sarg nur an Schwarze: »Till wurde den schwarzen Menschen als Inspiration und Warnung vor Augen geführt. Nicht-schwarze Menschen müssen akzeptieren, dass sie diese Geste niemals darstellen und niemals verstehen können.« Dieser Satz ist eiskalt. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe erlaubt sich diese Autorin, anstelle einer Mutter zu sprechen, die einen Sohn verloren hat, und den Sarg wieder zu schließen, den diese aus politischen Gründen geöffnet hatte. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe wird eine weiße Künstlerin und Malerin für unfähig befunden, den Schmerz der Mutter nachzuempfinden. Ihre Empfindlichkeit gegen Rassismus wird ihr abgesprochen, ja sogar vorgeworfen! Obendrein will man ihr Bild vernichten.

      In den folgenden Tagen drohten Demonstranten, die

      Biennale zu boykottieren. Aus Furcht vor Auseinandersetzungen und Vergeltungen lehnte man es ab, das Bild ordnungsgemäß auszustellen. Der Kunstwelt wurde beschieden: Prangert nicht mehr das Leid von Minderheiten an, sonst endet ihr auf der Anklagebank! Ein solches Schicksal erlitt der kalifornische Bildhauer Sam Durant, dessen Installation Scaffold die Hinrichtung von 38 Dakota-Indianern im Jahr 1862 anprangert. Das Werk war im Walker Art Center in Minneapolis ausgestellt worden. Doch einige Indianer mochten es nicht, dass ein Weißer erzählte, was sie für ihre Geschichte hielten. Nach Monaten der Proteste und Vorwürfe brach der Bildhauer ein und baute sein Werk wieder ab.

      Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung gehen wie Fundamentalisten vor. Ihr Ziel ist es, ein Monopol über die Darstellung des Glaubens zu wahren, indem sie anderen verbieten, ihre Religion zu malen oder zu zeichnen. Dadurch zeichnen sie selbst sich maßgeblich aus. Im Falle der kulturellen Aneignung treiben Schriftsteller, manchmal auch Künstler oder Aktivisten ihr Spiel mit ihrem Minderheitenstatus, um ihre Vorstellungen und ihre Deutungshoheit umso besser durchsetzen zu können.

      Das künstlerische Schaffen der einen behindert nicht das der anderen. Doch die Aktivisten wollen lieber verbieten, als ihrerseits etwas zu schaffen. Dieses Recht, glauben sie, sei ihnen buchstäblich angestammt, und aufgrund des Leids ihrer Vorfahren stehe es über allem sonstigen Recht. Die von anderen erduldeten Leiden erlauben ihnen, wieder andere zu unterdrücken: ein tyrannischer Komfort. Das ist keine »entartete Kunst« im Sinne der Nazis, sondern eine im Namen der Genetik zensierte Kunst: eine rassistische Zensur. Es gibt kein anderes Wort zur Bezeichnung der Absicht, ein Werk aufgrund der Hautfarbe seines Schöpfers zu verbieten.

      Glücklicherweise gibt es auch andere Antirassisten, die dem widerstehen. So geschah es, als ein übler Wind sich gegen Exhibit B erhob, eine Installation des weißen süd-afrikanischen Künstlers Brett Bailey, die die Tradition der »Menschenzoos« anprangert. Sie soll uns Unwohlsein bereiten, indem sie uns zwingt, eine Reihe lebender Bilder entlangzugehen. Die Darstellungen schildern den Schrecken des Kolonialismus und der Sklaverei. Eine »schwar-ze Venus« wird als Jahrmarktsattraktion präsentiert, wie eine »Odaliske«, die sich nackt im Bett eines französischen Offiziers in Brazzaville räkelt. Eine andere trägt einen Korb voller Hände, abgehackt von belgischen Kolonisatoren. Dies geschah Sklaven, die die Quote bei der Gewinnung von Latex nicht erfüllten. All das erfährt man in dieser Ausstellung. Mehr noch, man spürt Wut in sich aufsteigen, und Abscheu. Darin besteht die Kraft eines Kunstwerks: dass es einen dazu bringt, aus sich herauszugehen und sich in einen anderen zu hineinzuversetzen. Was aber den buchstabengetreuen Identitätsvögten total abgeht.

      Seien Sie beruhigt, diese Leute haben sich die Ausstellung nicht angesehen, ehe sie deren Zensur verlangten. Alles ging bloß von einem Artikel aus. Monatelang war die Ausstellung ohne Probleme gelaufen, von Wien nach Brüssel und zwischendurch auch in Paris. Doch all das änderte sich, nachdem eine im Guardian erschienene Kritik sie als riskant und »umstritten« beurteilt hatte.18

      Galerien jenseits des Ärmelkanals sind selten mutig. Gleich nach den Anschlägen von London im Jahr 2005 beeilte sich der Direktor der Tate Gallery, eine vorgesehene satirische Ausstellung über den Talmud, den Koran und die Bibel abzusetzen. In Paris wäre diese Art von Zensur ein Skandal. Was nicht heißt, dass kleine Gruppen, die sich vom angelsächsischen Antirassismus beeindrucken lassen, diesen Kulturterror nicht zu importieren versuchten.

      Als sie sah, dass die Installation Exhibit B nach Paris zurückkommen würde, trommelte die Brigade anti-négrophobie Leute zusammen, um vor dem Théâtre Gérard Philipe in Saint-Denis zu demonstrieren, Sicherheitsbarrieren umzustürzen, Zuschauer anzugreifen und die Absage der Ausstellung zu erwirken.

      Die Interviewten warfen dem Künstler vor, er sei weiß und zeige Schwarze in der Situation von Opfern. Ist das nicht notwendig, um die »Menschenzoos« anzuprangern? Pascal Blanchard, ein Experte für Kolonialgeschichte, äußerte sich über dieses Vor­kommnis bestürzt: »Man sollte meinen, nur ein Schwarzer könnte Rassismus begreifen.«19

      Trotz der Einschüchterungen fand die Vorführung statt, doch nur dank dem Mut des Centre dramatique national de Saint-Denis et du Centquatre – und unter einiger Anspannung.

      Der Produzent und Manager des Centquatre hielt stand: »Wir haben jeden Abend gespielt. Mit der Bereitschaftspolizei20 vor dem Theater, um die Zuschauer zu schützen.« Was ihn am meisten betrübt? »Die Unmöglichkeit, eine ordentliche Diskussion mit den Leuten zu führen, die uns angreifen. Wir haben das vorgeschlagen, doch eigentlich hatte niemand Lust, uns anzuhören, weder die Künstler noch ihre Unterstützer.«21

      Während sie den Dialog verweigerten, kampierten die Demonstranten weiterhin vor dem Eingang der Ausstellung. Ihretwegen sah der Centquatre aus wie eine von Abtreibungsgegnern umzingelte amerikanische Klinik. Die wenigen Zuschauer mussten die Installation unter Begleitschutz besuchen.

      Unter ihnen der berühmte ehemalige Fußballer Lilian Thuram, auch bekannt für sein Engagement gegen Rassismus. Er wollte selbst urteilen. Als er, sichtlich bewegt, wieder herauskam, sagte er dem Künstler und der Installation Exhibit B, die er »sehr gelungen und sehr verstörend« fand, seine volle Unterstützung zu. Auch antirassistische Organisationen, die für ihre Opferallüren durchaus be-kannt sind, wie die Liga für Menschenrechte oder die MRAP22, haben die Ausstellung unterstützt.

      Das war eines der ersten Male, dass eine Zensurkampagne aufgrund kultureller Aneignung in Frankreich von sich reden machte.

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