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sie sich in Zensur. Das Ergebnis ist ein geistiges und kulturelles Ruinenfeld, das den Nostalgikern der Herrschaft zu Gute kommt.

      Dieses Buch mag hoffentlich dazu beitragen, einen Ausweg zu finden.2 Es geht nicht darum, die guten alten Zeiten zu bedauern, in denen man sich an Homosexuellen, Schwarzen oder Juden auslassen durfte; noch darum, denjenigen Rückendeckung zu geben, die das Verlangen nach Gleichheit mit einer phantasierten »Tyrannei der Minderheiten« verwechseln. Ich habe das Recht zu lieben gegen homophobe Beschimpfungen behaupten müssen, die ich meine Kindheit und Jugend lang zu hören bekam. Meine ersten Schlachten schlug ich gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus. Als Vorsitzende des Centre gay et lesbien habe ich für den Stammvater der »Ehe für alle« gekämpft. Um ihn zu verteidigen, ließ ich mich von irgend-welchen Schergen unter dem Ruf »dreckige Lesbe« verprügeln. Der Kampf für die Gleichheit hat mich geprägt, doch dem für die Freiheit bleibe ich innigst verbunden.

      Wegen meiner Arbeit als Regisseurin und Journalistin, frühere Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, fürchte ich um die Freiheit, schöpferisch tätig zu sein, zu denken, zu zeichnen und zu spotten. Sämtliche Facetten meiner Identität haben meine Analyse des Gleichgewichts genährt, das es in Sachen Redefreiheit und Gleichheit zu finden gilt.

       Eine Meute von Inquisitoren

      Wie alle Stürme kommen die üblen Winde der modernen Inquisition zunächst in den sozialen Netzwerken auf. Als ein Ort der Freiheit ist das Internet zugleich der Ort aller Unterstellungen. Dort wettert man anonym los und lyncht beim geringsten Verdacht. Eine Meute wütender Trolle, die die Philosophin Marylin Maeso »die Verschwörer des Schweigens«3 nennt, schafft es, uns einen Maulkorb anzulegen. Wir erleben den Anbruch einer »Silhouettenwelt«, einer Welt des falschen Scheins, vor der es Albert Camus grauste.4 Allenthalben herrscht die Tyrannei der Beleidigung, die dem Gebot des Schweigens vorausgeht.

      Man braucht nur »kulturelle Aneignung« – ein Begriff, der sich seit erst zwölf Jahren in die öffentliche Debatte gedrängt hat – bei Google einzugeben, um 40.200.000 Treffer zu zählen. Eine Sintflut.

      Die ersten Hetzjagden haben um die Jahrhundertwende begonnen. Eines schönen Morgens im November 2012 fand sich Heidi, eine amerikanische Familienmutter, im Internet mit Beschimpfungen überschüttet. Ihr Vergehen? Eine Geburtstagsfeier ihrer Tochter in japanischem Stil veranstaltet zu haben. Am Vorabend hatte sie Kirschblüten auf dem Tisch verstreut, Tee in traditionellen Tassen ser­viert und das Besteck durch feine Stäbchen ersetzt. Die Freundinnen ihrer Tochter liebten es, Kimonos überzuziehen und sich wie Geishas zu schminken. Und natürlich hatten sie dieses Ereignis mit ihren Mobiltelefonen unsterblich gemacht, ehe sie die Fotos in den sozialen Netzwerken ausstellten. Eine schlechte Idee: Eine Meute wütender Kommentatoren lud sich selbst zur Nachfeier ein, um das Fest zu verderben und die Mutter öffentlich anzuprangern.

      Im Internet wurde sie des »Yellowfacing« bezichtigt, als ob das Auftragen von Geisha-Schminke zu einem Geburtstag auch nur das geringste mit der Zeit der Rassentrennung oder damit zu tun hätte, dass weiße Schauspieler sich als Schwarze verkleiden, um sich auf der Bühne über sie lustig zu machen. Man warf ihr vor, ihre Tochter schlecht zu erziehen: »Bringen Sie Ihren Kindern bei, dass das nicht okay ist!« Die sich im Internet als Beleidigte zu Wort meldeten, waren natürlich alle Amerikaner. Die seltenen Nebenkläger japanischer Herkunft erklärten sich angesichts dieser Reaktionen für unzuständig.

      Einer von ihnen, der auch in Japan lebte, versteht den Furor der Entrüstung nicht, die jener Mutter entgegenschlug: »Die einzigen Menschen, die denken, Kultur dürfe nicht geteilt werden, sind Rassisten wie du.« Er selbst meinte, »eine große Mehrheit der Japaner liebt es, wenn andere sich um eine Wertschätzung der japanischen Kultur bemühen. Sie ermutigen sie dazu.« So sahen das auch andere: »Diese Feier ist eine Form, eine andere Kultur zu erfahren.«

      Verdutzt durch die enorme Vereinfachung des amerikanischen Inquisitors, fragte ein anderer Japaner: »Wo ziehst du die Grenze dessen, was ›erlaubt‹ ist? Wenn das Mädchen japanische Wurzeln hätte, wäre es dann okay? Bist du nur dann befugt, eine Pizza zuzubereiten, wenn du in Italien lebst?«

      Die Frage trifft den Nagel auf den Kopf. Aber die Meute jagt einem Angst ein. In Furcht und Schrecken versetzt durch die Vorstellung, sie könnten wie Heidi beschimpft werden, erkundigten sich immer mehr Eltern, was an Halloween zu tun korrekt sei. Im selben Jahr fragte eine andere Mutter in den sozialen Netzwerken ihre Freunde, ob sie einen »Vaiana«-Abend veranstalten dürfe, in Anspielung auf den Zeichentrickfilm, der die berühmte polynesische Heldin würdigt. Sie stellte klar, dass in ihrer Familie alle »sehr weiß und sehr blond« seien. Sogleich sprang einer als Familienoberhaupt ein und verfügte, unter der Bedingung, dass die Kleinen sich kein »brown face« aufsetzen, sei die »kulturelle Feier« keine »Aneignung«. Eine andere Mutter bemerkte, sie sehe viele kleine Mädchen, die sich zu Halloween wie Frida Kahlo verkleiden, und fand das »nicht respektlos«. Sie hoffte bloß, dass diese kleinen Mädchen wissen, wer die Malerin war, und »dass sie sich nicht auf eine zusammengewachsene Augenbraue und schöne Blumen beschränken«. Nichts ist weniger gewiss. Im Land der Unterstellung kultureller Aneignung ist die allgemeine Kultur diejenige, die man sich am wenigsten aneignet.

      Wie ist ein solches Aufflackern von Anschuldigungen zu erklären? Der Funke rührt aus einer sehr konfusen Vorstellung von Antirassismus. Das Ausmaß der Lynchjustiz verdankt sich unserer neuen Art zu debattieren und dem Phänomen der Meute 2.0. Mit den sozialen Netzwerken gibt es keinen Bedarf mehr an Bewegungen, kein Bedürfnis mehr, Spruchbänder zu basteln oder auf die Straße in die Kälte hinauszugehen, um zu protestieren. Man kann meckern und dabei schön im Warmen bleiben, geschützt durch Anonymität. Die Anlässe zur Empörung sind folgerichtig viel zahlreicher und manchmal auch nichtiger. Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, etwas zu verdauen oder Luft zu holen, ehe wir losschreien. Bei der geringsten Meinungsverschiedenheit, beim geringsten Stich in unsere Haut, und sei er noch so mikroskopisch klein, heulen wir mit einem Griff in die Tastatur auf, zumal wenn ein virtueller »Freund« oder ein Angehöriger unserer Sippe die Klage führt. Wir schließen uns an, indem wir mit unseren empörten Schreien in den Kreis der Beleidigten einstimmen.

      Selten hat unsere virtuelle Identität unsere wirkliche so sehr bestimmt. Dem Philosophen Clément Rosset zufolge erlaubt die »geliehene Identität«, diese »Nachahmung des anderen«, die Bildung der eigenen Persönlichkeit.5 Die jetzige Generation bildet sich hauptsächlich durch Nachahmung derer, die andere im Internet lynchen. Man beteiligt sich mit umso mehr Elan, als die Meute einen schützt, und das mit so viel Begeisterung, dass es genügt, »beleidigt« oder »Opfer« zu sagen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Als Funke reicht ein einziges Posting über kulturelle Aneignung, um sich Freunde zu machen und sich selbst mitten ins Geschehen zu werfen. Die Anzahl der Wölfe spielt kaum eine Rolle, denn die Legitimität verdankt sich dem Status des Opfers. Nichts ruhmreicher, als der David zu sein, der gegen Goliath kämpft.

      Dieses neue Kräfteverhältnis erweist sich als recht angenehm, wenn es darum geht, Ungerechtigkeit oder multinationale Konzerne zu bekämpfen, Diktatoren zu trotzen und Tyrannen zu stürzen. Die Kehrseite der Medaille ist die Inflation absurder und unverhältnismäßiger Kampagnen gegen Familienmütter, Prominente oder Künstler.

      Die digitale Interaktivität zwingt die Online-Presse, auf alles stets ganz schnell zu reagieren, mit immer weniger Zeit zum Nachdenken. Sobald auch nur die kleinste »Geschichte« eine Minderheit gegen eine Mehrheit in Szene setzt, findet sich eine Website, ein Blog oder selbst ein reguläres Medium, um das Fieber rasch steigen zu lassen. Die Journalisten der Online-Redaktionen sind darauf besonders scharf. Aus einem einfachen Grund: Über ein solches Thema kann man in kurzer Zeit spielerisch leicht schreiben, und es ruft Reaktionen hervor. Ideal in Zeiten des »Clickbaiting«, um den Zähler der Seitenbesuche nach oben klettern zu lassen und so die Ressourcen einer wirtschaftlich schwachen Presse aufzubessern.

      Zieht man zudem in Betracht, dass ein freier Journalist, häufig ein Volontär, nicht mehr die Zeit hat und selbst auf Anhieb nicht mehr in der Lage ist, das Bedeutende vom Unbedeutenden zu unterscheiden, begreift man, warum so viele Artikel der geringsten Erregung gewidmet sind, erst recht wenn es sich um Berühmtheiten handelt. Was nicht weiter schlimm wäre, wenn die Wut nicht

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