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Veränderungen zu tun.36

      Viele der Gefahren, die die Menschheit heute bedrohen, wie der Klimawandel oder die globale Finanzkrise haben diesen nichtlinearen Funktionsverlauf. Wir können uns lange Zeit in Sicherheit wähnen, weil unsere Handlungen offenkundig keine Änderungen im umgebenden System auslösen. Dann aber plötzlich tritt der Schaltereffekt auf. Zu diesem Zeitpunkt ist es aber in der Regel entweder gar nicht, nur mit extrem großen Aufwand oder erst nach langen Zeiträumen möglich, den Schalter wieder auf „Normal“ zurückzusetzen.

      Was bedeutet dies für die Frage nach der Belastbarkeit von Wissen? Ist die Welt so komplex, dass wir sie gar nicht erkennen können, sondern immer wieder im Dunkeln stochern und uns in der Illusion wiegen, wir hätten komplexe Systeme verstanden? Ganz so aussichtlos ist die Situation nicht. In den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten haben Wissenschaftler viele hochkomplexe Systeme analysiert und sind auch zu gehaltvollen Einsichten gekommen37. Allein die Tatsache, dass wir es geschafft haben, unsere Lebenserwartung in den OECD-Ländern in den letzten 150 Jahren mehr als zu verdoppeln, ist schon ein Beleg dafür, dass unser Wissen, vor allem das Wissen um die inneren Abläufe in unserem Körper sowie über die genetischen und epigenetischen Vorgänge in unseren Körperzellen ständig besser und präziser geworden ist.38 Auch die erfolgreiche Entwicklung von Technologien zeugt von der Wirksamkeit der hinter dieser Entwicklung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dass diese Technologien oft mehr Probleme, etwa für Umwelt und Gesundheit, als Nutzen schaffen, ist weniger eine Frage der Begrenztheit des Wissens, als eine Frage der Kriterien, nach denen wir dieses Wissen bewerten und umsetzen. Auch Landminen erfüllen genau den Zweck, für den sie entwickelt worden sind, so moralisch verwerflich sie auch sein mögen. Wissenschaftliches Wissen hilft uns, Zusammenhänge zu erkennen und aus dieser Einsicht heraus [30] Handlungsoptionen zu entwerfen und deren Folgen abzuschätzen, sie können uns aber nicht die schwierige Aufgabe abnehmen, die Erwünschtheit dieser Folgen zu bewerten und nach ethischen Gesichtspunkten Handlungsoptionen abzuwägen (siehe dazu Teil VI). Je komplexer die Zusammenhänge sind, desto unsicherer ist das Wissen und desto eher sind Irrtümer und Fehlprognosen zu erwarten. Aber eins ist klar: Methodisch abgesicherte Erkenntnisse sind dann immer noch eine bessere Richtschnur zum Handeln als reine Intuition oder der Rückgriff auf Plausibilität.39 Auf die Irrtümer der Intuition und Plausibilität werden wir noch im zweiten Teil zu sprechen kommen.

      Die stochastische Wende

      Mit dem Thema Unsicherheit berühren wir eine dritte Dimension im Verständnis moderner Wissenschaft. Vor allem im Rahmen der Naturwissenschaften galt lange die Regel: Wenn A, dann B, wenn nicht A, dann nicht B. Diese einfache kausale Beziehung zwischen A und B wird als Determinismus bezeichnet.40 Immer dann, wenn A vorliegt, können wir B erwarten. Und wenn A nicht vorliegt, dann gibt es auch kein B. Diesen einfachen Zusammenhang kann man am Beispiel mit dem heißen Herd noch einmal verdeutlichen. Immer dann, wenn ich mich auf eine heiße Herdplatte setze, verbrenne ich mir das Gesäß. Wenn ich mich nicht auf eine heiße Herdplatte setze, verbrenne ich mich nicht. Das klingt alles sehr logisch und trivial. Unser physikalisches Schulwissen ist zum großen Teil auf solchen deterministischen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut. Mechanik, Optik, Magnetismus: Immer stoßen wir auf klare funktionale Zusammenhänge, die eindeutige Beziehungen zwischen den Variablen festlegen.

      Mehr und mehr haben wir aber erfahren, dass beim Vorliegen der Ausgangsbedingung A die Konsequenz B nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftritt, und auch andere Konsequenzen, beispielsweise C und D [31] ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Diese neue Erkenntnis wird in der Mathematik unter dem Begriff der Stochastik abgehandelt.41 Stochastische Zusammenhänge bedeuten, dass zwischen zwei Phänomenen zwar eine kausale Beziehung besteht, diese sich aber nur mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung abbilden lässt. Der Philosoph Bruno Latour hat dies in dem provokativen Satz zusammengefügt: „Nein, wir werden niemals mehr sichere Erkenntnisse haben.“42

      In diesem Zusammenhang ist die sogenannte Glockenkurve von besonderer Bedeutung, bei der ein Zusammenhang zwischen A und B gleichmäßig um einen Mittelwert streut und die Wahrscheinlichkeiten der Abweichung vom Mittelwert links und rechts sukzessiv kleiner werden. Eine solche Glockenkurve ist in Bild 2 dargestellt.

      Bild 2: Typischer Verlauf einer Glockenkurve zur Erfassung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung

      Quelle: MEDI-LEARN Skript Physik - Abbildung 1 - Seite 5, Häufigkeitsverteilung und Gauß'sche Glockenkurve, www.medi-learn.de/phy-1

      [32] So sind beispielsweise Männer in Deutschland im Schnitt 180,2 cm groß. Allerdings ist nur ein winzig kleiner Anteil der deutschen Männer genau 180,2 m. Aber in dem Intervall zwischen 175 und 185 finden sich rund 47 % aller Männer in Deutschland.43 Die Glockenkurve für die Körpergröße bei Männern und Frauen ist in Bild 3 dargestellt.44

      Bild 3: Körpergröße der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger

      Quelle: Statista

      Der größte jemals gemessene Mann war der Amerikaner Robert Pershing Wadlow (1918–1940). Im Guinness Buch der Rekorde ist er mit einer Körpergröße von 272 cm gelistet.45 Der kleinste Mann der Welt war der Inder Gul Mohammed (1957–1997). Dieser war lediglich 57,15 cm groß.46 Das [33] heißt, die Glockenkurve breitet sich rechts und links weit aus, aber dennoch sind es nur ganz wenige Individuen, die an den beiden äußeren Rändern der Glockenkurve liegen. Man kann sogar mathematisch genau angeben, wie es unten am Bildrand von Bild 2 verzeichnet ist, wie viele Fälle in Prozent in den jeweiligen Abschnitten zu erwarten sind.

      Das klingt auf den ersten Blick banal, ist aber für das Verständnis wissenschaftlichen Wissens sehr bedeutsam. Viele Missverständnisse zwischen Wissenschaft und ihren Abnehmern rührt aus dem mangelnden Verständnis stochastischer Beziehungen. In meinem Gebiet, der Risikoforschung, sind stochastische Aussagen oft schwer zu illustrieren und noch schwerer zu kommunizieren.47 Wenn ich beispielsweise über die Risiken des Zigarettenrauchens referiere, kann ich sicher sein, dass einer aus dem Publikum aufspringt und mit einem gewissen Grad an Häme den Mithörerinnen verkündet, dass sein Onkel Herbert 95 Jahre alt sei und mindestens zwei Packungen am Tag rauche. Von irgendwelchen Tumoren oder anderen Krankheiten sei er weit entfernt. Um dann abschließend zu resümieren: So schlimm, wie Sie es darstellen, kann das Rauchen gar nicht sein!

      In einer stochastischen Welt gibt es junge Menschen, die weder rauchen, noch Alkohol trinken und jeden Tag Sport treiben und dennoch mit 35 Jahren einen tödlichen Herzschlag erleiden, ebenso gibt es steinalte Personen, die zu viel Alkohol trinken, zu viel rauchen, übergewichtig sind und sich auch nicht mehr vom Sofa wegbewegen, ohne dass sie an schweren chronischen Erkrankungen leiden. Wenn man die Glockenkurve wieder zurate zieht, dann verschiebt sich der Mittelwert der Kurve beim Raucher bzw. bei der Raucherin von links nach rechts, d. h. die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, steigt erheblich an. Aber am linken unteren Rand der Kurve gibt es immer noch Personen, die trotz erheblichen Zigarettenkonsums uralt werden, während am anderen Ende bereits 30-jährige Nichtraucher von Lungenkrebs betroffen sind. Die gängige Formel: Wer raucht, stirbt an Krebs, ist also falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen haben zweifelsfrei ergeben, dass sich die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, bei Rauchern, [34] gegenüber Personen, die nicht rauchen, ungefähr verdoppelt.48 Das bedeutet aber nicht, dass alle Raucherinnen und Raucher an Krebs erkranken werden. Im Gegenteil: Eine knappe Mehrheit der Raucher und Raucherinnen wird nicht an Lungenkrebs erkranken. Aber es werden wesentlich mehr sein als unter den Personen, die nicht rauchen.

      In der öffentlichen Wahrnehmung der Stochastik hat dies zu zwei diametral unterschiedlichen Reaktionsweisen geführt.49 Wenn ich selber ein bestimmtes riskantes Verhalten an den Tag lege, etwa Zigaretten rauche oder Extremsportarten betreibe, dann bin ich in der Regel auf die linke Seite der Glockenkurve fixiert. Ich gehe davon aus: Mir wird schon nichts passieren! Werde ich dagegen unfreiwillig

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