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Die Unsterblichen. Anne Boyer
Читать онлайн.Название Die Unsterblichen
Год выпуска 0
isbn 9783751803267
Автор произведения Anne Boyer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
An dem Tag, als ich ihn bemerkte, schrieb ich an der Geschichte, an der ich immer schrieb, darüber, wie wir wieder zusammen waren und es nicht sein sollten und ich hoffte, wir könnten bald damit aufhören. Wir waren nicht glücklich. Wir konnten nie zusammen sein, ohne ins Bett zu gehen. Wir konnten nie miteinander ins Bett gehen und glücklich sein. Wir konnten nie glücklich sein, wenn wir nicht zusammen waren, und darum waren wir immer zusammen, traurig und im Bett. Wir kannten uns seit Jahren und unser Kennen hatte die Form eines strapazierfähigen Netzes aus Wir sollten nicht angenommen, in dem sich beiderseits extravagante Ausprägungen selbst zugefügten Leids verfingen.
Zuerst kam der Sex, dann der Befund, dann fuhren wir Rolltreppe zum Ticketschalter im Kino, dann telefonierte ich mit meiner Ärztin wegen eines Termins, dann schrieb ich in mein Tagebuch, dass ich hoffte, wir kämen endlich dem Punkt näher, an dem unser beider Gegenwart auf dieser Erde uns nicht mehr unglücklich macht. Ich schrieb nicht, dass wir ein Ding in meiner Brust gefunden hatten oder wie der Actionfilm hieß, den wir ansahen, nachdem wir das Bett verlassen hatten.
Meine Angst kam nicht vom Krebs, über den ich damals fast nichts wusste. Meine Angst kam aus einer Suchmaschine. Ich fürchtete mich vor dem, was Google ausspuckte, als ich »Knoten in der Brust« eingab, fürchtete mich vor der Krankheitskultur, die in Blogs und Foren florierte, fürchtete mich davor, wie Menschen zu Patient:innen gemacht wurden, mit Karteinummern und Unterschriften, mit Leiden, Neologismen und Zusprüchen. Mets. Foobs. NED.6 Ich fürchtete, am ersten Tag, um meinen Wortschatz.
Von all dem, was passiert war, notierte ich mit akribischer Vermeidung nur die Nebensächlichkeiten, die eine unternimmt, die sich aus einem Grund fürchtet, den sie unterschlägt: wie ich Wäsche wusch, den Boden wischte, Betten machte, mir schwor, über eine verfahrene Liebe wegzukommen; ich erzählte mir eine Geschichte, um eine andere nicht erzählen zu müssen.
Man sagt uns, Krebs sei ein Eindringling, der bekämpft werden muss, oder ein falscher Charakterzug oder ein überambitionierter Zelltyp oder eine Analogie auf den Kapitalismus oder ein Naturphänomen, mit dem man leben muss, oder ein Sachwalter des Todes. Man sagt uns, er sei in unserer DNA, oder man sagt uns, er sei in der Welt, oder man sagt uns, er siedle in einer verstrickten Mixtur aus Genen und Umwelt, die niemand dingfest machen kann oder will. Man gibt uns von allen Wahrscheinlichkeiten nur die lärmende Hälfte, die seine Ursachen in uns selbst sehen will, und nie die stille Seite, dass seine Quellen die von uns geteilte Welt durchdringen. Unsere Gene werden geprüft, unser Trinkwasser nicht. Unser Körper wird untersucht, aber nicht unsere Luft. Man sagt uns, er niste in den Verwirrungen unserer Gefühle, oder man sagt uns, er niste in den Zwangsläufigkeiten unseres Fleischs. Man sagt uns, es gebe einen Unterschied zwischen krank und gesund, zwischen akut und chronisch, zwischen leben und sterben. Die Krebsnachrichten erreichen uns über dieselben Bildschirme wie die Wahlnachrichten, in E-Mails, zeitgleich mit Einladungen zu LinkedIn. Die rigorosen Markierungen der Radiolog:innen sind dieselben wie die von Drohnenpilot:innen. Das Bildschirmleben von Krebs entspricht dem Bildschirmleben von jeglichem medial vermittelten globalen Terror und auch seiner Unwirklichkeit.
Krebs fühlt sich nicht wirklich an. Krebs fühlt sich an wie ein Alien, das unsere industriell-kapitalistische Gegenwart zum Kontakt treibt: mittel-astral, semi-sinnlich, ganz Entsetzen. Die Krebsbehandlung ist wie ein Traum, aus dem wir nur halb erwachen, um festzustellen, dass Halbschlaf ein weiteres Kapitel im Buch dieses Traums ist, eines Traums, der Zeugnis und Gefäß für Wachen und Schlafen ist, jegliche Freude und allen Schmerz, den unerträglichen Widersinn und mit ihm allen eruptierenden Sinn, jeder Moment des Traums zu unermesslich, ihn zu vergessen, und jede Erinnerung Amnesie.
Die Brustchirurgin sagte, der größte Risikofaktor für Brustkrebs sei es, Brüste zu haben. Sie wollte mir den Erstbefund der Biopsie nicht mitteilen, wenn ich allein käme. Meine Freundin Cara arbeitete für zehn Dollar die Stunde und konnte nicht freinehmen, ohne Geld zu verlieren, das sie zum Leben brauchte, also fuhr sie in ihrer Mittagspause raus zu der Vorortpraxis, damit ich meine Diagnose bekam. Wenn du nicht Kind oder Elternteil des- oder derjenigen oder mit ihm oder ihr verheiratet bist, gewährt das Gesetz in den USA niemandem, frei zu nehmen, um sich um dich zu kümmern.7 Wenn du außerhalb der Einfriedung namens Familie geliebt wirst, kümmert es das Gesetz nicht, wie sehr – selbst mit der gesamten nicht beurkundeten Liebe der Welt um dich musst du noch leben, als sei deine Pflege gestohlene Zeit. Als Cara und ich im oberlichthellen Beige des Sprechzimmers saßen und auf die Ärztin warteten, gab Cara mir das Springmesser, das sie in ihrem Portemonnaie trug, damit ich mich unter dem Tisch daran festhalten konnte. Was die Ärztin nach diesem bühnenhaften Vorspiel sagte, war, was wir schon wussten: Ich hatte mindestens einen Tumor, 3,8 Zentimeter groß, in meiner linken Brust. Ich gab Cara ein schweißklammes Messer zurück. Dann fuhr sie wieder zur Arbeit.
Den Rest des Befunds erhielt ich, nachdem ich von der Chirurgin zum Onkologen überwiesen worden war. In Siddhartha Mukherjees Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie ist es die Königin von Persien – Atossa –, die zur exemplarischen Brustkrebspatientin wird und aus dem Jahr 500 v. Chr. durch die Zeit reist auf der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten. Bei diesem ersten Besuch beim Onkologen – auch mein erstes Mal in einem Wartezimmer voller Chemotherapiepatient:innen, keine:r davon königlich – erschien mir Mukherjees Gedankenexperiment einer fixen, zeitlosen, aristokratischen Leidenden, die austauschbare Medizinhistorien besucht, als anschauliches Sinnbild für die Unterlassungen unserer gegenwärtigen Krebskultur. Krebs ist keine in einem ahistorischen, sich in einer Kurve technologischen Fortschritts vorwärts bewegenden Körper verewigte Gleichförmigkeit.8 Kein:e Patient:in ist souverän, und alle Leidenden, die von der Krebstherapie wie die von den erschöpfenden Pflegeroutinen gezeichneten, sind auch von unseren historischen Umständen gezeichnet, die sich in einem spezifischen Geflecht sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen zeigen.
Die Geschichte der Krankheiten ist nicht die Geschichte der Medizin – es ist die Geschichte der Welt –; und die Geschichte davon, einen Körper zu haben, könnte gut auch die Geschichte davon sein, was den meisten von uns im Interesse weniger zugemutet wird.
Auf einen gelben Zettel schrieb der Onkologe – der, den meine Freund:innen und ich später »Doktor Baby« nannten, weil er solche Ähnlichkeit mit einer Putte hatte – in kindlicher Schrift »hormonrezeptor-positiver Brustkrebs« und erklärte, dass es dafür zielgerichtete Therapien gibt, dann strich er es durch. Dann schrieb er »HER2-positiver Brustkrebs« und erklärte, dass es dafür zielgerichtete Therapien gibt, dann strich er es durch. Dann schrieb er »triple-negativ« und erklärte, dass es dafür keine zielgerichteten Therapien gibt. Er sagte, das sei der Krebs, den ich habe. Er sagte, der Tumor sei nekrotisch, was bedeute, er wachse so schnell, dass er es nicht schaffe, eine Infrastruktur für sich auszubilden. Er schrieb 85 % als Wachstumsrate des Tumors auf, und ich fragte ihn, was das bedeute. Er antwortete, »alles über 20 %« auf dem Ki-67-Index sei hochaggressiv.9 Dann sagte er »neoadjuvante Chemotherapie«, was bedeutete: »sofort«.10 Einer Lymphknotenpräparation oder Biopsie weiterer Bereiche, von denen die Ärzt:innen fürchteten, sie könnten befallen sein, stimmte ich nicht zu: Dieser eine sichere Tumor war Hiobsbotschaft genug und seine Behandlung würde so aggressiv sein, dass es keinen Sinn zu machen schien, durch einen schmerzhaften Eingriff zu erfahren, was noch da war.
Eine Sache, bei der Mukherjees Buch richtig liegt, ist: Falls die Brustkrebsdiagnose der persischen Königin Atossa triplenegativ und damit chemotherapieresistent lautete, »stehen ihre Chancen [heute] kaum besser«11 als vor 2500 Jahren. Keine Chemotherapie zu machen, hieße zu sterben, so Dr. Baby. Eine zu machen, dachte ich, hieße, sich zu fühlen, als würde man sterben, aber vielleicht zu leben, beziehungsweise