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Sontag, eine großbürgerliche, weiße Kulturkritikerin, betrifft die Unkenntlichmachung das Persönliche. Wie sie unter möglichen Titeln für das, was Krankheit als Metapher werden sollte, festhielt: »Nur über sich selbst nachzudenken heißt, über den Tod nachzudenken.«15

      Ein vierter Titel, den Sontag für ihr nie ausgeführtes Buchprojekt in Erwägung zog, war Frauen und Tod. Sie behauptet: »Frauen sterben nicht füreinander. Es gibt keinen ›schwesterlichen‹ Tod.«16 Aber Sontag hat Unrecht, denke ich. Ein schwesterlicher Tod wäre nicht, dass Frauen füreinander sterben: Das wäre ein paralleler, entfremdeter Tod. Ein schwesterlicher Tod wäre, wenn Frauen daran sterben, Frauen zu sein. Die queere Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die ihre Brustkrebsdiagnose 1991 mit 41 erhielt, schrieb über die Brustkrebskultur und ihren erschreckenden, brutalen Zwang zur Geschlechtlichkeit. Angesichts ihrer Diagnose habe sie gedacht: »Scheiße, jetzt muss ich wohl wirklich eine Frau sein.«17 Wie S. Lochlann Jain im Kapitel »Krebs-Butch« ihres Buches Malignant. How Cancer Becomes Us formuliert: »[E]in reizendes Diagnöschen droht dich reinzusaugen, in den archetypischen Tod, den der weibliche Körper stempeln geht.«18 Sedgwick stirbt 2009 an Brustkrebs.

      Frauen sterben vielleicht nicht, wie Sontag behauptet, füreinander, doch ihre Brustkrebstode bleiben nicht ohne Opfer. Was wir zugunsten des Gemeinwohls aufgeben sollen, zumindest in unserer »Bewusstseins«-Ära, dieser lukrativen, mit rosa Schleifen verzierten Alternative zu »Heilung«, ist weniger das eigene Leben als die eigene Lebensgeschichte. Dem Schweigen um Brustkrebs, dem Lorde begegnete, entspricht heute der unablässige Sprachlärm, den Brustkrebs erzeugt. Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, in ein Schweigen hineinzusprechen, sondern darin, Widerstand gegen das alles übertönende Rauschen zu üben. An die Stelle von Sontags und Carsons Unwillen, sich selbst mit der Krankheit in Verbindung zu bringen, wie es dem Schweigen um Brustkrebs seinerzeit entsprach, ist heute eine Pflicht für die betroffenen Frauen geworden, es ständig zu tun.

      Obwohl ich, wie Acker, von mir behaupten möchte, nicht sentimental zu sein, verbindet dieser Satz mich und meinen Brustkrebs in einer, wenn nicht sentimentalen, so doch ideologischen Geschichte:

      »2014 wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert, mit 41.«

      Die Frage nach der Form ist also auch eine politische. Eine ideologische Geschichte ist immer eine, bei der ich, wie Acker, nicht weiß, warum ich sie erzählen soll, und es doch tue. Dieser Satz mit seinem »ich« und »Brustkrebs« speist ein »Bewusstsein« von bedrohlicher Allgegenwart. Schweigen ist nicht mehr die größte Hürde bei der Suche nach Heilung, wie Jain beobachtet: »Das Überall von Krebs führt heute zu einer Brühe des Nirgends.«19

      In die rosarote Landschaft des Brustkrebsbewusstseins wird regelmäßig nur eine Art von Menschen, die Brustkrebs hatten, zugelassen: die Überlebenden. Diese Gewinner:innen machen berichtend Beute. Die Geschichte des eigenen Brustkrebses zu erzählen heißt, eine Geschichte des Überlebens zu erzählen, ganz im Sinne des neoliberalen Selbstmanagements – eine Geschichte darüber, wie man das atomisierte Individuum richtig spielt, selbstuntersucht und -mammografiert, und einer dank Wohlverhalten, 5-km-Läufen, grünen Bio-Smoothies und positivem Denken geheilten Krankheit. Wie Ellen Leopold in ihrer Geschichte des Brustkrebses A Darker Ribbon zeigt, ändern sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1990er-Jahren auch die Erzählkonventionen zu Brustkrebs: »[D]ie äußere Welt gilt als gegeben, eine Kulisse, vor der sich das eigene Drama abspielt.«20

      Nur über sich selbst nachzudenken, heißt also nicht, nur über den Tod nachzudenken, sondern, unter diesen Umständen, über einen bestimmten Typ von Tod oder todesartigem Zustand, der keine Politik, kein gemeinschaftliches Handeln, keine Geschichtsschreibung kennt. Die industrielle Brustkrebsätiologie, die misogyne und rassistische Medizingeschichte und -praxis sowie die nach Bevölkerungsschichten ungleiche Verteilung von Brustkrebsleiden und -sterben kommen in der gegenwärtigen Brustkrebserzählung nicht vor. Nur über sich selbst nachzudenken, mag heißen, über den Tod nachzudenken, aber über den Tod nachzudenken heißt, über alle nachzudenken. Wie Lorde formulierte: »Ich trage eine Liste mit Namen von Frauen, die nicht überlebt haben, in mein Herz tätowiert, und da ist immer noch Platz für einen weiteren Namen – meinen eigenen.«21

      1974, im Jahr ihrer Brustkrebsdiagnose, notiert Sontag in ihr Tagebuch: »Ich habe erkannt, dass mein Denken bisher sowohl zu abstrakt als auch zu konkret war. Zu abstrakt: Tod. Zu konkret: ich.« Daraufhin führt sie »einen Begriff dazwischen, der sowohl abstrakt als auch konkret« ist, ein. Dieser Begriff – angesiedelt zwischen ich und dem eigenen Tod, dem Abstrakten und Konkreten – ist »Frauen«. »Und dadurch«, sagt Sontag, »hat sich eine ganz neue Welt des Todes vor mir aufgetan.«22

DIE TEMPELSCHLÄFER:INNEN

       1.

      Als die Radiologietechnikerin den Raum verlässt, drehe ich meinen Kopf Richtung Bildschirm, um jegliches Neoplasma, die Nervennetzwerke, die kleinen beleuchteten Schriften, die meine Pathologie und/oder Zukunft und bevorstehendes Ende verzeichnen könnten, auszudeuten. Der erste Tumor, den ich je sah, war eine runde Verdunklung auf diesem Bildschirm, aus der ein rissiger Finger ragte. Von meinem Untersuchungstisch aus machte ich ein Foto davon mit meinem iPhone. Dieser Tumor war mein eigener.

      Krank sein, in dieser plötzlichen Erfahrung überschnitten sich Klinik und Empfindung. Ich trug dasselbe grüne Trägershirt zu abgeschnittenen Jeans wie jeden Sommer. Dann Überraschung, dann Fachbegriffe, unerbittlich und überzeugend, die die Klimakontrolle heißlaufen ließen, diese ernste Frau im grauen Anzug, emphatisch im Blick auf den Untergang, dann Panik, klinische Details, erstaunte GChats mit meinen Freund:innen. Eine Ermittlerin tritt in mein Leben, rausgeputzt wie eine ganze Institution, sagt, sie ermitteln bezüglich Empfindungen, die jemand (ich) bisher noch nicht erfahren musste, aber nun erfahren wird.

      Dinge und Handlungen aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen Ordnung neu zu klassifizieren, ist wie Wahrsagerei. Einer Wahrsagerin zeigen Vögel, die nach Norden fliegen, künftiges Glück an und Teeblätter erzählen von zwei Liebenden und der Dritten, die ihnen Verderben bringt. Danach ist Vogelflug frei von der Bedeutung »Zug«, und Tee, der zu einer Erzählung über das bevorstehende Ende einer Liebe wurde, wollen wir nicht mehr trinken.

      Ein Ding oder mehrere aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen neu zu klassifizieren, hat auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Diagnostik, die unseren Körpern Informationen entnimmt und das, was aus unserem Inneren kam, dann in einer Ordnung neu bestimmt, die uns von fernher aufgedrängt wird. Mein Knoten gehörte einmal zu mir, doch sobald die Radiologin ihn als BI-RADS 5 eingestuft hatte, wurde er zum Tumor, für immer heimisch in der Ordnung der Onkologie.1 Wie die vom Sinn ihres Fliegens befreiten Vögel und der befreite Tee ist ein Mensch mit Diagnose befreit von dem, was sie einmal als sich begriffen hat.

      Mit Bestimmtheit für krank erklärt zu werden, während man sich mit Bestimmtheit gesund fühlt, bedeutet, gegen die Härte von Sprache zu prallen, ohne auch nur eine Stunde weicher Unbestimmtheit zu erhalten, um sich darin mit präventiver Sorge à la Jetzt hast du keine Lösung für ein Problem, jetzt hast du einen konkreten Namen für ein Leben, das entzweibricht zu beruhigen. Eine Krankheit, die sich nicht darum scherte, sich den Sinnen anzukündigen, erstrahlt in ihrem Bildschirmleben, da Licht Schall ist und Information, verschlüsselt, unverschlüsselt, in Umlauf, analysiert, bewertet, erforscht und verkauft. Auf den Servern zerfällt oder verbessert sich unsere Gesundheit. Früher waren wir in unseren Körpern krank. Heute sind wir krank in einem Körper aus Licht.

      Willkommen, Messgeräte mit Namen aus Buchstaben: MRT, CT, PET. Ohrenschützer auf, Kittel an, Kittel aus, Arme rauf, Arme runter, einatmen, ausatmen, Blut abnehmen, Kontrastmittel spritzen, Zauberstab rein, Zauberstab an, bewegen oder bewegt werden – Radiologie macht aus einem Menschen aus Fleisch und Blut eine Patientin aus Licht und Schatten. Es gibt leise Radiologietechniker:innen, lautes Rattern, warme Decken, Piepen wie im Film.

      Ein Bild in einer Klinik ist keins: Es ist Bildgebung. Wir, die wir durch die Ultraschallwellen und ihre Momentaufnahmen, durch Lichttricks und

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