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zum Deutscherwerb werden vornehmlich türkisch- und russischsprachige Kinder untersucht (vgl. Kapitel 4.2). Dies ist insofern erstaunlich, als die Anzahl der in Deutschland lebenden Polen sehr groß ist. Da sich Polnisch und Deutsch in Bezug auf syntaktische Regularitäten deutlich voneinander unterscheiden, bilden sie eine Steilvorlage für die Untersuchung des Erwerbs der Wortstellung. Die vorliegende Studie liefert somit neue Evidenz aus der in der Forschung unterrepräsentierten Sprachkonstellation.

      Um die Ziele der vorliegenden Arbeit zu erreichen, wurden im Rahmen einer Querschnittstudie vier Aufgaben durchgeführt, die sowohl auf die Repräsentation als auch auf die Produktion der untersuchten Wortstellungsmuster in fortgeschrittenem Zweitspracherwerbsstadium eingehen. Erstere umfassten zwei Aufgaben des Grammatikalitätsurteils und der Strukturauswahl, in denen auch die Reaktionszeit als Indikator der Verarbeitungsgeschwindigkeit gemessen wurde. Außer kindlichen Zweitsprachlernern wurden zusätzlich simultan bilinguale und monolinguale deutsche Kinder untersucht, die miteinander verglichen wurden. Dies ermöglichte eine bewusste Trennung bestimmter Einflussfaktoren voneinander, z. B. sprachlicher von außersprachlichen. Mittels entsprechender statistischer Verfahren wurden auch Korrelationen zwischen den Leistungen der Kinder und den anvisierten Einflussfaktoren unter besonderer Berücksichtigung des Alters zu Beginn des Zweitspracherwerbs festgelegt.

      Die zentralen Forschungsfragen lauten somit:

       (F1) Wie entwickeln sich die einzelnen Wortstellungsphänomene im fortgeschrittenen Stadium des Zweitspracherwerbs?

       (F2) Gibt es Unterschiede zwischen den sukzessiv bilingualen Kindern und den monolingualen und simultan bilingualen Kindern im fortgeschrittenen Stadium des Wortstellungserwerbs?

       (F3) Gibt es Unterschiede zwischen den Urteils- und Produktionsdaten in den einzelnen Gruppen?

       (F4) Welchen Einfluss hat das Alter bei Erwerbsbeginn auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

       (F5) Welchen Einfluss haben das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer und der kumulative Input auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

       (F6) Welcher der vier Faktoren, d.h. das Alter bei Erwerbsbeginn, das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer oder der kumulative Input, hat den größten Einfluss auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

       (F7) Gibt es Unterschiede zwischen dem fortgeschrittenen Zweitspracherwerb und dem fortgeschrittenen (bilingualen) Erstspracherwerb in Hinblick auf die allgemeine grammatische Kompetenz und die Reaktionszeit?

       (F8) Welcher der vier Faktoren, d.h. das Alter bei Erwerbsbeginn, das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer oder der kumulative Input, hat den größten Einfluss auf die allgemeine grammatische Kompetenz und die Reaktionszeit?

      Der Gegenstand und die Ziele der Arbeit spiegeln sich in ihrer Struktur wider. Das zweite Kapitel ist als Einführung in die Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit im natürlichen Kontext konzipiert und bildet den Bezugsrahmen für die Untersuchung des Zweitspracherwerbs bei Kindern, indem es die relevantesten Begriffe und Themenbereiche beleuchtet. Im dritten Kapitel wird ein linguistisch definiertes Beschreibungsinstrument für die deutsche Wortstellung überblicksartig skizziert, um den Erwerbsgegenstand der untersuchten Kinder zu veranschaulichen. Das vierte Kapitel setzt sich mit dem Altersfaktor beim Erwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster im Deutschen auseinander, indem es zuerst allgemein die Kontroverse um altersbedingte Phänomene beim Zweitspracherwerb thematisiert und daran anknüpfend die relevantesten Studien zum Erwerb der deutschen Satzstruktur sowohl bei monolingualen als auch bei bilingualen Kindern unterschiedlichen Alters kritisch referiert. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, spätere Erwerbsphasen zu erfassen und die in diesen Studien ermittelten Alterseffekte zu erklären. Im fünften und im sechsten Kapitel werden das methodische Vorgehen und die empirischen Daten theorieneutral dargestellt. Erst im siebten Kapitel werden sie vor dem Hintergrund des theoretischen Bezugsrahmens wie auch im Lichte der bereits existierenden Studien diskutiert und interpretiert. Das achte Kapitel hat das Ziel, einige praxisbezogene Schlussfolgerungen zu ziehen und mögliche Implikationen für die sprachliche Diagnostik bilingualer Kinder vorzuschlagen. Das neunte Kapitel zielt schließlich darauf ab, die wichtigsten Befunde kurz zusammenzufassen und einen forschungsorientierten Ausblick zu geben.

      2 Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit

      In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die relevantesten Aspekte der kindlichen Zweisprachigkeit aus erwerbstheoretischer Perspektive zu besprechen. Dargestellt werden vor allem diejenigen Themenbereiche, die für den Erwerb der Wortstellung von Belang sind. Angefangen mit dem generativen Ansatz in der Spracherwerbsforschung wird zunächst seine theoretische Fundierung beschrieben, um dann daran anknüpfend auf die Hypothesen des Erst- und Zweitspracherwerbs detaillierter einzugehen. Die Studien, die explizit dem Wortstellungserwerb im Deutschen gewidmet sind, werden hier absichtlich nicht berücksichtigt und erst in Kapitel 4.2 separat behandelt. Als Nächstes werden mögliche Wege zur Zweisprachigkeit im frühen Alter unter besonderer Berücksichtigung der grammatischen Entwicklung diskutiert. Einen wichtigen Teil dieses Kapitels bilden ferner interne und externe Einflussfaktoren auf den kindlichen Zweitspracherwerb, die vor allem in Bezug auf die Entwicklung grammatischer Phänomene besprochen werden. Zentral ist hier die Frage, welcher Faktor die Entwicklung der Syntax bestens zu erklären vermag. Abschließend werden relevante Manifestationen von Spracheneinfluss im syntaktischen Bereich, einschließlich der ihn modulierenden Faktoren, aufgezeigt.

      2.1 Generativer Ansatz in der Spracherwerbsforschung

      Das generative Paradigma hat die Sprach- und dabei insbesondere die Grammatiktheorie unermesslich stark beeinflusst. Mit der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Werkes Syntactic Structures im Jahr 1957 hat Noam Chomsky, der wohl meistzitierte Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die Fundamente für die generative Linguistik geschaffen. Auf diese Art und Weise hat sich der Paradigmenwechsel vom Strukturalismus zur generativen Sprachwissenschaft vollzogen:

      „Angelpunkt der ganzen Absetzung der Generativen Grammatik von der nicht-generativen Systemlinguistik ist eine fundamental andere sprachtheoretische Grundauffassung vom Gegenstand der Sprachforschung. Die Deskriptivisten fragen nach dem Allgemeinen, dem Regelmäßigen in einem äußerlich vorfindbaren Objekt (Korpus), nach den Typen, Klassen und Regeln einer Einzelsprache wie des Deutschen. Die Frage der Generativisten aber lautet: Was weiß jemand oder hat jemand im Kopf, der eine Sprache, z. B. die deutsche Sprache, beherrscht? Mit dieser Frage wird zum Gegenstand des Sprachwissenschaft eine mentale, eine kognitive Fähigkeit, ein Teil des geistigen Besitzes des Menschen.“ (Linke et al., 2004: 103)

      Die Linguistik wird folglich zu einer Teildisziplin der Kognitionswissenschaft und setzt sich als solche zum Ziel, die Sprache als eine kognitive Fähigkeit des Menschen zu untersuchen, der ein Sonderstatus innerhalb der Kognition zuerkannt wird.1 Damit hängt die Modularitätshypothese zusammen, der zufolge der menschliche Geist aus mehreren relativ autonomen Modulen besteht, denen verschiedene kognitive Leistungen zugeordnet werden können (vgl. z. B. Sadownik, 2010: 59). Ein spezielles Modul bildet im generativen Paradigma insbesondere die Syntax, die ein eigenständiges, in sich geschlossenes System von mentalen Repräsentationen bzw. kognitiven Strukturen darstellt, dem eigene Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, welche in keiner anderen Wissensdomäne vorzufinden sind (vgl. Fanselow & Felix, 1990: 66f.).2 Das syntaktische Wissenssystem kann mithin nicht von anderen kognitiven Wissensbeständen abgeleitet werden und bildet daher den wichtigsten Teil der menschlichen Sprachkompetenz. Der Begriff Kompetenz spielt aus generativer Perspektive eine besondere Rolle und wird der Performanz gegenübergestellt. Während die Kompetenz das implizite Sprachwissen umfasst, wird unter Performanz die Anwendung dieses zugrunde liegenden Wissens in konkreten Sprachsituationen verstanden (vgl. Chomsky, 1965: 3).3

      Die generative Theorie zielt darauf ab, Antworten auf zwei spezifische Fragestellungen zu liefern: (1) die Frage nach der mentalen Organisation des sprachlichen Wissens im Geist/Gehirn und (2) die Frage nach dem Erwerb dieses Wissens (vgl. Fanselow & Felix, 1990: 7, 15). In Bezug auf die zweite Frage ist die generative Spracherwerbstheorie daran interessiert,

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