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standen, trug Pauls Zeugenaussage entscheidend dazu bei, dass seine Widersacher verurteilt wurden. „Oje, mein erstes Mal vor Gericht“9, erinnerte sich Paul.

      Paul war diese Sache ebenso eine Lehre wie den Schlägern von nebenan: Arbeite hart und stehe zu deinem Wort, und wenn dir jemand etwas wegnehmen will, das dir gehört, dann wehre dich. Jim ging nicht leichtfertig mit materiellen Gütern um. Er hatte hart gearbeitet und sich bemüht, stets zu seinem Wort zu stehen. Für Jim war das der Grundstein des Lebens, und er sorgte dafür, dass Paul und Mike begriffen, was das hieß: Wichtig war, dass man eine Ausbildung erhielt, auf das hörte, was andere sagten, hart arbeitete und die Dinge zu schätzen wusste, die man sich dadurch leisten konnte.

      Vom seinem ersten Tag in der Grundschule an zeigte sich Paul als aufmerksamer Schüler mit gutem Betragen. 1949 wechselte er von der Stockton Wood Road Primary School zur Joseph Williams Primary. Die dortige Direktorin Muriel Ward sah in ihm einen ungewöhnlich ordentlich gekleideten Jungen, dessen gebügelte Hosen und Strickschlipse ebenso in Erinnerung blieben wie seine fröhlichen kleinen Streiche. Im Unterricht lernte er konzentriert, hörte allen Anweisungen aufmerksam zu und erledigte seine Aufgaben prompt. Die größte Auszeichnung seiner Grundschulzeit erhielt er im Juni 1953, kurz vor dem Wechsel an die weiterführende Schule, als er den für seine Altersstufe von der Stadt ausgeschriebenen Preis für einen Aufsatz über die Krönung von Elisabeth II. erhielt. Paul erhielt unter anderem einen Büchergutschein. Er traf eine für seine Herkunft und sein Alter überraschende Wahl, als er sich dafür ein Buch über moderne Kunst zulegte. „Unheimlich viele Bilder, Leute wie Victor Pasmore, Salvador Dalí, Picasso und viele andere Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte.“10

      Pauls Noten in den 11-Plus-Prüfungen, die nach Abschluss der Grundschule über die weitere Schullaufbahn bestimmten, stellten entscheidende Weichen. Schüler, die gute Leistungen zeigten, konnten sich für die besten Schulen der Stadt empfehlen, und Paul zählte unter den neunzig Prüflingen der Joseph Williams Primary zu den vieren, denen einen Platz am Liverpool Institute angeboten wurde, das allgemein als beste Oberschule der ganzen Stadt galt. Jim und Mary waren glücklich über die Leistungen ihres ältesten Sohnes und wussten diese Entwicklung sehr zu schätzen. Das Liverpool Institute war noch vor kurzem eine privat finanzierte Schule mit strengem Lehrplan gewesen, an dem die ehrgeizigsten und talentiertesten Schüler der Stadt unterrichtet wurden. Dieser Schritt eröffnete dem Jungen gesellschaftliche und berufliche Möglichkeiten, die sich vor ihm kein McCartney je hätte träumen lassen.

      Kapitel 2

      Das Liverpool Institute liegt auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Stadtzentrums und ist ein imposantes Gebäude, dessen Säulenfassade, dem griechischem Stil nachempfunden, einen hübschen Kontrast zur eher schlichten protestantischen Liverpooler Backstein-Kathedrale bildet, die ganz in der Nähe an der Hope Street steht. Der Schultag folgte damals, Mitte der 1950er-Jahre einem straffen Plan, bei dem die Betonung auf strikter Disziplin und intensivem Lernen lag. Der Morgen begann mit der Versammlung aller Schüler in der Kapelle, wo der kahl werdende, an einen Raubvogel erinnernde Direktor J. R. Edwards Gebete sprach und dem Musiklehrer Les „Squinty“ Morgan den Einsatz gab, der die Schulhymne auf der großen Orgel spielte. Anschließend stiegen die Jungen die Wendeltreppen zu den Klassenräumen empor und bekamen Unterricht in Englisch, Mathematik, Geschichte, Musik und Fremdsprachen.

      Von dem Augenblick an, als Paul McCartney im Herbst 1953 zum ersten Mal die Schule durch die Seitentür betrat (der majestätische Haupteingang war den Schülern der obersten Klasse vorbehalten), machte er auf seine Lehrer und Mitschüler großen Eindruck. Der Deutschlehrer Arthur Evans bezeichnete ihn als „ausgesprochen liebenswert“, als einen Jungen, der „stets einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, aber dabei niemals unverschämt wirkte“11. Von seinen Mitschülern zum Klassensprecher gewählt, musste Paul zu Anfang der Stunden eine Anwesenheitsliste führen und als eine Art Vermittler zwischen Schülern und Lehrern fungieren. „Er war dafür verantwortlich, dass es in der Klasse lief“, erinnerte sich Alan „Dusty“ Durband, der englische Literatur unterrichtete. „Aber er hat sich nie bei irgendjemandem angebiedert, er war einfach ein guter Organisator.“12

      Er war so gut, dass seine Lehrer den stetigen Strom lustiger Bemerkungen in der Regel überhörten, die er seinen Sitznachbarn im Unterricht zuflüsterte. Wenn er jedoch die Stimme erhob, dann konnte sich der stets gut gelaunte Junge so elegant aus einer Klemme herausmanövrieren, dass viele Lehrer gar nicht merkten, wie sie manipuliert wurden. Wenn es in der Geschichtsstunde langweilig wurde, hob Paul die Hand und fragte den Lehrer Cliff Edge irgendetwas nach dessen geplanter Urlaubsreise. Wo wollte er noch einmal hinfahren, hatte er gesagt? Das reichte meist für eine unterhaltsame Viertelstunde. Wenn die Jungen im Deutschunterricht einzuschlafen drohten, machte Paul wie nebenbei eine Bemerkung über einen interessanten Bus, den er am Morgen die Mather Avenue hatte entlangfahren sehen, und dann vergaß Norman Forbes in der Regel, dass er eigentlich Verben hatte konjugieren lassen wollen. Wenn Paul dann die Sprache auf die Kampagne des Deutschlehrers brachte, der bei der Stadt Liverpool mehr Rechte für Fußgänger durchsetzen wollte, war die Stunde meist so gut wie gelaufen. Für Evans, der Paul im Unterricht, aber auch im einwöchigen Pfadfinderlager während der Sommerferien erlebte, war der charismatische Junge ein lebender Widerspruch. Er war, so Evans, „ein konformistischer Rebell“13, ein Bilderstürmer, dessen sanfter Spott teilweise überdecken sollte, dass er im Grunde fest an die althergebrachte Ordnung glaubte. Zumindest insoweit, als sie ihm nicht in die Quere kam.

      „Viele Leute mochten die Schule nicht“14, erinnerte sich Paul in den frühen Neunzigern. „Ich war ebenfalls nicht besonders begeistert, aber ich fand sie auch nicht gerade schrecklich. Ein paar Sachen gefielen mir sogar sehr gut. Was mir jedoch nicht gefiel, war, dass man mir ständig sagte, was ich tun sollte.“

      Meistens lief aber alles so, wie Paul es sich dachte. 1955 zogen Jim und Mary mit ihren Jungs in ein Haus der neu errichteten Arbeitersiedlung an der Forthlin Road in Allerton, einem Vorort nordwestlich von Speke, der wieder näher zur Liverpooler Innenstadt gelegen war. Die Häuser gehörten der Gemeinde, und die subventionierte Miete belief sich auf 1 Pfund 6 Schilling die Woche – äußerst günstig für ein ordentliches Reihenhaus mit Ziegelfassade, das drei Schlafzimmer, ein sonniges Wohnzimmer mit Fenstern nach Osten und eine moderne Küche besaß, in der sogar genug Platz für eine Waschmaschine war. Der größte Luxus befand sich jedoch im Obergeschoss: eine Toilette im Haus, direkt gegenüber dem Badezimmer. Jim pflanzte Lavendelbüsche in den Vorgarten (er trocknete die Blüten, und Mary tat sie in kleine Säckchen, die sie überall im Haus versteckte, damit die Wohnung gut roch), und die Abendsonne ruhte auf der Rasenfläche des Gartens, in dem zwei Liegestühle zum Ausruhen einluden. Die Familie zog zu Beginn des Sommers dort ein, als sie gerade die Nachricht erhalten hatten, dass auch Mike beim 11-Plus-Examen unerwartet gute Ergebnisse erreicht hatte. Nun würden beide McCartney-Jungen das Liverpool Institute absolvieren.

      Die McCartneys hätten sich wirklich vom Schicksal begünstigt fühlen können. Sie waren zwar immer noch eine Arbeiterklasse-Familie – die Baumwollindustrie erstarkte nie wieder so, dass Jim die Karriere, die er einst so sicher geglaubt hatte, hätte fortsetzen können. Aber Mary verdiente gut, sie hatten ein schönes Zuhause und zwei Söhne, die Anstalten machten, gesellschaftlich aufzusteigen. Dennoch hatte Mary schon fast zehn Jahre lang eine lastende Dunkelheit heraufziehen gefühlt, und im Sommer 1956 spürte sie, dass der Schmerz erneut in ihr aufstieg.

      Sie fühlte ihn nun tief in ihrem Körper, so heftig, dass sie sich zusammenkrümmen musste, die Hände gegen die schmerzende Brust gelegt. Eines Nachmittags, kurz nachdem er am Liverpool Institute angefangen hatte, lief Mike die Treppe zu seinem Zimmer empor und sah seine Mutter weinend auf dem Bett sitzen, in einer Hand ein Kruzifix, im anderen das Porträt eines Verwandten, der katholischer Priester geworden war.

      „Was ist los, Mum?“, fragte er.

      Mary hob schnell den Kopf und wischte sich die Tränen weg. „Nichts, mein Liebling.“15

      Bei der nächsten Untersuchung in der Klinik zeigten die Röntgenaufnahmen, dass der Krebs sich ausgebreitet und andere lebenswichtige Organe befallen hatte. Man konnte nichts mehr tun, außer, das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuzögern. Eine Brustamputation würde die Krankheit vielleicht eine Weile zum Stillstand

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