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umstanden wie das Ärztekollegium in der Psychiatrie den Patienten, sprachen Bände. Denn genau das dachten sie, dass er besoffen gewesen sei. Bernie holte noch einmal sein Handy mit den Aufnahmen heraus, die er von der Gletscherhand gemacht hatte. Der Regen lies die Bedienoberfläche sofort schmierig werden, doch es gelang ihm, nachdem er den Handschuh ausgezogen hatte, das Foto aufzurufen. Er zeigte es herum. Zum wiederholten Male. Leider hatte er versäumt, die GPS-Daten mit abzuspeichern. Er schalt sich einen Trottel dafür. Aber jetzt war es zu spät. Nach seinem Empfinden standen sie genau an der Stelle, wo die Hand hätte sein müssen. Doch nichts als tropfendes Eis und Schnee umgab sie. Aber Moment mal? Schnee? Wieso Schnee? Es hatte doch nicht wirklich geschneit. Und hier unten in der zwanzig Meter tiefen Gletscherspalte bestand doch keine Wand aus Schnee? Er boxte gegen die eisige Schneewand, die sogleich in Abertausende von Eisraspeln zersplitterte, in sich zusammenfiel und zu ihren Füßen in das gluckernde Schmelzwasser hineinkalbte. Der Blick war frei auf eine künstliche Höhlung in der Eiswand. Bernie sprang erschrocken zurück, die ARS-Bergretter ebenso. Die Höhlung maß etwa drei auf zwei Meter und ging fast zwei Meter tief ins Eis hinein. Gegenstände lagen darin: zwei Kettensägen, bereits festgefroren. Zwei Benzinkanister. Ein Fülltrichter. Eine große Blechkiste. Verblüffte Kommentare gingen hin und her. Bernie kniete sich auf die Kante und griff in die Höhle hinein, um einen der Kanister herauszuziehen, als ihn der scharfe Ruf von Wachtmeister Luchsinger stoppte: „Nüünt alängä!“

      Bernie lies vor Schreck den leeren Kanister fallen, dieser rutschte auf der abschüssigen Eisfläche aus der Höhle heraus, überschlug sich zweimal, schusselte zwischen den Stiefeln der Suchmannschaft hindurch und wurde vom abfließenden Gletscherwasser holpernd davongetragen. Einer der ARS-Männer schnappte den Flüchtling und hielt ihn triumphierend hoch. Dann stellte er ihn wieder zurück in die Eishöhle.

      „De Maa isch gmuggät worre“, stellte Thommy nüchtern fest. Bernie nickte. Fast wirkte er erleichtert. Immerhin war jetzt klar, dass er keinen Blödsinn erzählt hatte. Wachtmeister Luchsinger stellte sich so vor die Höhle, dass niemand mehr hineinfassen konnte. Er drückte höchste polizeiliche Entschlossenheit aus. War das hier tatsächlich ein Leichendiebstahl? Die Männer sahen sich ratlos an. Dann besann sich Thommy der beiden Kriminalpolizisten aus Chur, die vor einer halben Stunde über Funk so genervt hatten. „Hol de Funk ussi, mr sotte jetzt doch ämol aariefe“, kommandierte der Truppführer.

      *

      Im Café Puntschella in Pontresina war es gemütlich warm gewesen und der Blick durch die große Fensterscheibe hinaus aufs Dorfzentrum bot kurzweilige Unterhaltung. Hier hätten es Urs Rüthli und sein Kollege Pirmin Hürzeler auch den ganzen Nachmittag aushalten können. Aber Rüthli zögerte keine Sekunde, als er von der Entdeckung oben im Gletscher erfuhr: „Wir gehen sofort hin!“ Zwanzig Minuten später saßen sie dick vermummt in Dienstanoraks im geländegängigen Spezialfahrzeug des Polizeipostens Pontresina und ließen sich erst die drei Kilometer bis nach Morteratsch und dann von dort auf dem Gletscherpfad auf den nebelumhangenen Berg hinauf chauffieren. Hürzeler, der vollkommen in seinem Anorak verschwand, plädierte unter Berufung auf die fortgeschrittene Uhrzeit und den schwarzen Himmel unablässig für die sofortige Umkehr. „Wir kommen in die Nacht“, jammerte er. Der Geländewagen machte einen Satz. Rüthli hielt sich am Überrollbügel fest. Hürzeler, der Lulatsch, stieß sich den Kopf an und jammerte weiter.

      Unterwegs trafen sie Bergführer Bernie mit vier Mann vom ARS-Rettungsteam. Sie hatten sich bereits auf den Rückweg gemacht. Rüthli ermahnte sie, sich anderntags zur Aufnahme eines Protokolls zur Verfügung zu halten und sammelte alle Adressen ein.

      Nach zuletzt noch einem 40-minütigen strammen Fußmarsch erreichten sie endlich die Gletscherspalte und die Stelle, an der Anführer Thommy mitsamt einem inzwischen festgefrorenen Wachtmeister Luchsinger wartete. Urs Rüthli lobte den Tapferen als vorbildlichen Beamten, was in diesem die Bereitschaft weckte, noch die ganze Nacht in der Gletscherspalte Wache zu stehen. Rüthli ließ die Stelle zuerst auf sich wirken, während Bergretter Thommy ihm von der Seite die ganze Fundgeschichte noch einmal haarklein erzählte. Nicht ohne mehrfach zu betonen, dass ihm so etwas noch nie vorgekommen sei. Hürzeler fotografierte aus allen Lagen. Rüthli dirigierte ihn: „Klettern Sie mal hier herauf! Jetzt von oben! Jetzt von unten! Sie müssen den Blitz einschalten, odder! So wird das nichts.“

      Inzwischen brach die Dämmerung über sie herein. Es wurde Zeit, die Beweissicherung abzubrechen. Rüthli wäre bereit gewesen, Scheinwerfer anzufordern und auch noch während der Nacht in der stark nässenden Gletscherspalte herumzukriechen. Alles Wichtige hatte er gesehen. Glaubte er.

      Fachmännisch bargen sie die Beweisstücke, packten sie einzeln in Plastikmüllsäcke, verstauten alles in der großen Blechkiste und verluden diese auf den Rettungsakia von Thommy. Die beiden Kettensägen waren monströse Maschinen, mit Schwertern, so groß wie ein Bügelbrett, geeignet, den halben Amazonas-Regenwald abzuholzen. Rüthli wog eine in den Armen: „Mordsgerät, odder!“

      Als Thommy die Blechwanne ein Stück in der Regenrinne weiter schob, die sich unter ihr gebildet hatte, schwemmte das Wasser auch einen kleinen weißen Papierfetzen weg. Rüthli wäre er fast entgangen. Er zog einen Handschuh aus und klaubte das winzige Papierchen aus dem kalten Eiswasser. Hürzeler, der seinen Kollegen kannte, zauberte aus den Tiefen seines Anoraks eine kleine Plastiktüte und hielt sie Rüthli hin. Der streifte das Papierchen in die Öffnung der Plastiktüte hinein und knotete sie dann sorgfältig zu. „S‘ könnt öbbis si“, so verfiel er vor Begeisterung in den heimischen Dialekt. Normalerweise achtete er auf seine kerzengerade, hochdeutsche Aussprache.

      Dann schritt Rüthli abermals die Fundstelle ab, inzwischen wegen der Dunkelheit hinter dem buttergelben Strahl einer dicken Polizeitaschenlampe. Es trieb ihn die Sorge um, etwas übersehen zu haben. Am nächsten Tag konnten alle Spuren verweht, verwässert oder verschneit sein. Selbst Wachtmeister Luchsinger, der immer noch in Hab-Acht-Stellung ausharrte, könnte über Nacht verschwinden, wenn sie ihn nicht mitnähmen. Ein Gletscher verschluckte gerne mal auch größere Gegenstände und ohne Probleme auch einen Polizeiwachtmeister. „Bewegen Sie sich!“, befahl Rüthli. „Sie frieren uns sonst hier noch fest.“

      Der Grund der Gletscherspalte war glatt wie eine eingeseifte Rutschbahn. Als sie sich auf den Rückweg machten, schlug es erst Korporal Hürzeler auf den Hintern, dann Wachtmeister Luchsinger. Rüthli und Thommy steuerten hinten und vorne an den Haltegriffen den Akia. So schlitterten sie talwärts. Rüthli sah schon die Schlagzeile vor sich: „Kettensäge aus Morteratsch-Gletscher geborgen!“ Zu peinlich! Noch konnte er sich keinen Reim auf den Fund machen. Aber er würde schon herausfinden, was hier geschehen war. Es gab zwar keine Leiche, aber es gab Beweisstücke, es gab Zeugen, es gab Fotos. Er drehte sich zu Hürzeler und raunte ihm zu: „Morgen früh müssen wir Vernehmungen machen und alle Beteiligten befragen, odder! Wenn wir im Polizeiposten sind, machen Sie eine To-Do-Liste!“

      Hürzeler stöhnte. Rüthlis Lieblingsbegriff war gefallen: To-Do-Liste! Das bedeutete nichts Gutes. Diese Listen genossen einen legendären Ruf bei der Kriminalpolizei. Und Rüthli wollte sie gleich machen, nicht erst am nächsten Morgen. Nach Hürzelers Zeitempfinden war es bereits Mitternacht. Er war todmüde, nass wie eine Bisamratte und hungrig wie ein Wolf. Wie konnte der Chef jetzt noch eine To-Do-Liste verlangen?

      *

      Rüthli suchte das deutsche Urlauberpaar Mona Hohner und Armin Röller in ihrem Hotel in St. Moritz auf. Er hatte sie noch am Vorabend zu später Stunde angerufen und sich vergewissert, dass ihr Urlaub noch andauerte und sie für ein Gespräch zur Verfügung standen. Das genervte Mosern von Armin Röller, der etwas von einer geplanten Mountainbike-Tour ins Telefon nuschelte, hatte der Feldweibel ignoriert. Die Frau wirkte am Telefon freundlich.

      Rüthli wartete in der kalten Hotelhalle, über deren Steinfliesen frühe Mountainbiker mit klackernden Spezialschuhen stürmten, bereit, die Berge zu erobern, obwohl es draußen fertige Pfützen regnete. Rüthli sah sich um. Ein typisches Sporthotel. Funktional, nüchtern, wenig Romantik. An den langweiligen weißen Wänden hingen übergroße Panoramafotos der Engadiner Bergwelt. Wie originell. Die Rezeption bestand aus einem integrierten, geschwungenen Furniermöbel, welches eine komplette Längsseite der Hotelhalle abschirmte wie eine Staumauer, sowie aus drei lieblosen Sitzgruppen aus schwarzen Lackledersesseln, garniert mit

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