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Onkeln und weiteren ferneren Verwandten. Je nach Bedarf wurden sie in den Betrieb mit eingespannt. Aschendorffer und die anderen Institutsmitglieder hatten es aufgegeben, Verwandtschaftsbeziehungen zu ergründen. Da hätte man gleich ein anatolisches Sippenverzeichnis in Auftrag geben können.

      Meslut Kaymal saß am Steuer, neben ihm ein dunkler, schnauzbärtiger Typ mit grimmigem Blick und furchterregenden Augenbrauen, und rechts außen im Führerhaus des Lieferwagens saß der Professor. Gegen fünf Uhr am Morgen hatte Kaymal ihn vor dessen Wohnung abgeholt. Ungeduldig hatte Aschendorffer dort schon gewartet: „Herr Kaymal, Sie haben über vier Stunden gebraucht, einen Lieferwagen zu organisieren. Das kenne ich nicht von Ihnen.“ Meslut Kaymal blickte den Professor mit seinen schwarzen Dackelaugen unterwürfig an: „Isse abber nicht normale Lieferwage! Isse Eiswage!“

      „Ein Eiswagen?“, der Professor runzelte die Stirn.

      „Gefrierewage“, verbesserte Kaymal. „Kannsch du mache Kühlschrank hinte drinne.“ Er klopfte stolz auf die seitliche Schiebetür. Dort prangte ein großer rotblau auflackierter Schriftzug „bofrost“. Darunter war das Foto eines in viele leckere Scheiben zerschnittenen Rollschinkens abgebildet, ungefähr so groß wie ein komplettes Mastschwein. Über allem stand der Slogan: „Frische und Genuss – tief gekühlt direkt ins Haus.“ Der Professor nickte anerkennend: „Ein Kühlfahrzeug! Hervorragend. Wo hast du den Wagen so schnell mitten in der Nacht herbekommen?“

      Kaymal lächelte bescheiden, wie stets, wenn ihm großartige logistische Leistungen gelungen waren: „Habe ich Bruder, der wo isse Fahrer von kalte Wage.“

      „Aha, ausgeliehen!“, kombinierte der Professor. Er wollte es nicht genauer wissen, weil er ahnte, dass jedes Hinterfragen eine Reihe zweifelhafter, höchstwahrscheinlich gesetzeswidriger Handlungen ans Licht brächte.

      „Und wer ist das da?“, fragte Aschendorffer, als er einsteigen wollte und auf dem Mittelplatz im Führerhaus bereits der Schnauzbart saß.

      „Isse andere Bruder.“

      Die Antwort reichte dem Professor nicht. Er ließ seinen fragenden Blick auf „andere Bruder“ ruhen und schnarrte: „Und? Wozu brauchen wir ihn?“ Es gefiel ihm nicht, dass noch weitere Personen in sein Vorhaben eingeweiht wurden.

      Kaymal grinste und entblößte dabei unter der von einem fadendünnen Schnäuzer gesäumten Oberlippe eine Reihe unglaublich gelber großer Zähne. Ein Eckzahn trug eine protzige Goldkrone. Sie funkelte im Morgenlicht. Kaymal erklärte: „Bruder isse Cheffe von Bergewachtposte auf die Feldberg obe.“ Als sei dort der Gipfel, zeigte er zur Bekräftigung mit seinem dicken Zeigefinger himmelwärts.

      „Bergwacht Feldberg?“ Der Professor blickte skeptisch drein. Kaymals „anderer Bruder“ saß unschuldig wie ein kurdischer Flüchtling auf seinem Platz und machte den Eindruck, als verstünde er kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

      Kaymal schob eine Erklärung nach: „Kann er fahre Ski-Doo-Schlitte!“

      „Ski-Doo was?“

      Mit dem Daumen deutete Kaymal hinter sich Richtung Lieferwagen: „Ski-Doo! Isse so kleine Schlitte zum Fahre über Schnee und Eiseberg!“ Zur Bekräftigung schürzte er die Lippen und machte ein Gesicht, das Aschendorffer an dem Türken schon kannte. Es drückte in etwa aus: Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.

      Der Professor wanderte um den bofrost-Lieferwagen herum und zerrte hinten an der Luke. Kaymal kam ihm zu Hilfe und stemmte die Tür auf. Arktische Kälte schlug ihnen entgegen. Der Laderaum des Lieferwagens war fast leer. Keine tiefgefrorenen Leckerbissen. Stattdessen stand im hinteren Teil des Transporters eine große, verschlossene Blechkiste und davor ein gelber Motorschlitten, der mit einer Pritsche zum Transport von havarierten Wintersportlern ausgestattet war. Der Schlitten trug vorne auf der Nase die Aufschrift „Bergwacht“.

      Johannes Aschendorffer schüttelte ungläubig den Kopf, nicht ohne innerlich seinem Helfer zu gratulieren. Blendende Idee. Natürlich würden sie ein Transportfahrzeug brauchen, um die gefrorene Leiche vom Gletscher zu holen. Kaymal hatte an alles gedacht.

      Sie schlugen die Luke des Lieferwagens zu.

      „Und dein Bruder ist bei der Bergwacht Feldberg?“, fragte Aschendorffer skeptisch.

      Kaymal nickte: „Cheffe dort!“, bekräftigte er.

      Also zwängte der Professor sich auf den Beifahrersitz neben Kaymals Bergwacht-Bruder, der aber keinesfalls wie ein Bergwacht-Chef aussah. Hätte er sonst Sandalen und kurze Hosen getragen? Die Fettspritzer auf dem kurzärmeligen Hemd des Bruders sprachen auch eine andere Sprache. Überhaupt roch es streng nach Dönerbude. Kaymal startete den Wagen. Aschendorffer seufzte. Er hatte einen Kühlwagen, einen Motorschlitten, zwei zu allem bereite türkische Helfer, er kannte die exakten Koordinaten vom Fundplatz der Gletscherleiche. Was wollte er mehr?

      Die Fahrt ging durch Nieselregen auf der A5 Richtung Basel und Schweizer Grenze. Der Professor vertiefte sich in einen Wälzer mit dem Titel „Zur Flora der Sedimentgebiete im Umkreis der Südrätischen Alpen“. Er sprintete in gewohnter Manier durch die Seiten. Die beiden Türken qualmten stinkende Balkanzigaretten. Die Lüftung des Lieferwagens surrte auf Hochtouren, um den Qualm ins Freie zu befördern. Aschendorffer fühlte sich nicht belästigt. Der Professor war zwar hundertprozentiger Nichtraucher und Antialkoholiker, aber keineswegs ein Gesundheitsfanatiker. Es machte ihm nichts aus, wenn er von Zigarettenqualm eingenebelt wurde. Im Autoradio lief SWR3: Das Wetter würde nicht besser werden, regnerisch und kalt, so, wie es Ende September in der Schweiz zu erwarten war.

      Ohne Schwierigkeiten kamen sie über die Grenze in Basel. Kaymal hatte kurz zuvor eine bereits mehrfach gebrauchte, geschickt präparierte Schweizer Autobahnvignette aus seiner Brieftasche gezaubert und auf eine Art und Weise auf der Windschutzscheibe befestigt, dass er sie jederzeit wieder abnehmen konnte. Die Schweizer Grenzposten belästigten sie nicht. So fuhr das Trio ohne Pause in gesetzeskonformem Tempo auf der Autobahn über Zürich nach Chur, von dort in immer heftiger niederprasselndem Regen auf der Schnellstraße nach Lenzerheide, Silvaplana, St. Moritz, wo der Regen in leichten Schneefall überging. Dann bogen sie auf die Via da Bernina Richtung Pontresina und Morteratsch ab.

      Alles ging gut. Ihnen begegneten kaum andere Autos. In Morteratsch lag die Hauptstraße verlassen im Schneeregen. Das Dorf befand sich im Postkartenmodus. Still und leer. Einheimische und Touristen saßen noch beim Frühstück. Die Tachouhr im Lieferwagen zeigte kurz nach neun Uhr. Kaymal fand sofort die Stelle, wo der Gletscherlehrpfad zum Gletscher ins Gelände führte. Ein großes Verbotsschild zeigte an, dass dieser Wanderweg für Fahrzeuge gesperrt war. Kaymal wendete und steuerte den Lieferwagen im Rückwärtsgang in den schmalen Schotterweg hinein. „Fahre so weit wie komme.“ Aschendorffer kontrollierte die GPS-Koordinaten. Der „andere Bruder“ schwieg und qualmte.

      *

      Eine knappe Stunde später standen sie in der Gletscherspalte, die den Leichnam barg. Inzwischen segelten kirschgroße, fette, weiße Schneeflocken vom Himmel. Die Sicht betrug null Meter. Dennoch fand Kaymal mithilfe von Kompass und GPS die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Kaymals Begleiter steuerte den Motorschlitten, der auf Raupen fuhr, so dass er nicht nur auf Schnee und Eis vom Fleck kam, sondern auch auf Bergwiesen, Schotterhängen und Trampelpfaden, die sie bis zum Erreichen der Gletscherzunge hatten queren müssen. Das war ein abenteuerlicher Ritt gewesen. Die beiden Türken hatten den Schlitten kurzgeschlossen, um ihn zu starten. Professor Aschendorffer wusste, dass dies nichts Gutes bedeutete, sowohl im Hinblick auf die Eigentumsverhältnisse, als auch hinsichtlich der Fahrerqualitäten. Mehr als einmal drohte das Gefährt umzukippen oder steckenzubleiben. Irgendwie schaffte es „anderer Bruder“ aber immer wieder, den Kurs zu halten. Kaymal, der mit Aschendorffer hinten auf der Blechkiste saß, die die beiden Türken auf die Schlittenpritsche geladen hatten, dirigierte seinen Bruder auf Türkisch. Kein Problem für Aschendorffer. Selbstverständlich verstand er Türkisch. Er hatte die Sprache zwar nie gezielt erlernt, aber er kannte sie, wie so viele andere Sprachen auch. Er experimentierte nämlich seit geraumer Zeit mit dem Broca-Areal und dem Wernicke-Zentrum, den beiden Sprachzentren im menschlichen Gehirn. Aschendorffers neurolinguistische Experimente zählten zu seinen vielen Nebenbeschäftigungen. Bei den Kollegen im BioGen

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