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Als Oma noch mit Kohlen heizte. Willi Fahrmann
Читать онлайн.Название Als Oma noch mit Kohlen heizte
Год выпуска 0
isbn 9783766642134
Автор произведения Willi Fahrmann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auf Tilla Meurer und seinen anderen Hilfslehrer konnte sich Lehrer Pannbeckers verlassen. Der zweite Hilfslehrer hieß bei den Schülern „der eisenharte Friederich“. Er war sehr gefürchtet. Der Lehrer hatte ihn nämlich eigenhändig aus der Nusshecke von Bauer Drevenaar herausgeschnitten. Der eisenharte Friederich wurde von Lehrer Pannbeckers noch häufiger zur Hilfe geholt als Tilla Meurer.
Der Unterschied zwischen den beiden Hilfskräften war: Tilla wandte sich an den Verstand der Kinder, der eisenharte Friederich aber sprach bei Mädchen die Handflächen an und bei den Jungen den Hosenboden. Bei Tillas Lehrkunst ging den Kindern ein Licht auf, beim Einsatz des eisenharten Friederich brannten die Handflächen und das Hinterteil wie Feuer. Wenn Lehrer Pannbeckers auf den eisenharten Friederich zurückgriff, dann war sein Kopf rot vor Zorn. Wenn Tilla ihm half, dann lächelte er zufrieden.
Auf Tilla hatte der Lehrer sogar ein Gedicht gemacht. Weil die Kinder fast alle Gedichte auswendig lernen mussten, die der Lehrer schrieb, deshalb war das Gedicht für Tilla im ganzen Dorf bekannt. Die erste Strophe hieß:
„Tilla ist ein Sonntagskind.
Unter ihrem blonden Zopf
in dem klugen, hellen Kopf
wohl tausend und mehr Ideen sind.“
Wie Recht Lehrer Pannbeckers mit den tausend Ideen hatte, das konnte in jenem Jahr allerdings noch niemand wissen.
Es war ein gutes Jahr gewesen. Das Heu war trocken in die Scheunen gekommen und die Getreidefelder hatten reiche Frucht getragen. Die Kinder fanden Anfang November so dicke Runkelrüben wie selten zuvor. Am Martinsabend leuchteten die Kerzen in den ausgehöhlten Rüben und beim Fackelzug schwebten die Fackeln wie große Köpfe durch die Dunkelheit. Die Nussbäume hatten tausend und abertausend Nüsse ins Gras geworfen. „Viele Nüsse, harter Winter“, sagte Tillas Mutter voraus und strickte ein weiteres Paar schafswollene Socken für ihren Mann.
Zunächst jedoch ließ der Winter auf sich warten. Einige wenige Nachtfröste im Dezember und zu Weihnachten Schneematsch auf den Straßen, das war alles, was er bis zum Jahresende aufzubieten hatte. Schon glaubte Tillas Mutter, die Nussbäume hätten sich getäuscht, da fiel Mitte Februar, als die Menschen im Dorf schon auf das Frühjahr warteten, ein scharfer Frost über das Land am Niederrhein. Eine dünne Schneeschicht knirschte unter den Füßen.
Der eisige Ostwind fegte den Himmel blank. Innerhalb weniger Stunden krauste sich eine Eishaut auf Tümpeln und Teichen.
Ob der Rhein in diesem Winter endlich mal zufriert?, dachte Tilla. Seit drei Jahren wartete sie darauf. Ihre Mutter hatte erzählt, dass Tilla zwei Jahre alt gewesen sei, als der Rhein sogar drei Wochen lang unter einem festen Eispanzer gelegen habe. Der Schmied Peerenbosch von der anderen Rheinseite habe es damals als Erster gewagt, über die Schollen von einem Ufer zum anderen zu klettern, und er sei heil herübergekommen.
Tilla stieg zum Rheindamm hinauf. Oben stand bereits der Knecht Christian van Bemmel. Er schaute auf das gewaltige bleigraue Wasser, das sich in dem breiten Flussbett auf Holland zuwälzte.
„Wohin fließt das viele Wasser, Tilla?“, fragte er.
„Nach Holland, Christian, nach Holland ins Meer.“
„Muss wohl groß und tief sein, das Meer“, sagte Christian.
„Muss es wohl“, stimmte Tilla zu. „Noch kein Eis zu sehen, Christian?“
„Noch kein Stückchen Eis, Tilla.“
„Wann, Christian, wann kommt das Eis?“
„Weiß ich auch nicht, Tilla. Vielleicht morgen?“
Sie gingen nebeneinander ins Dorf zurück, das kleine schmale Mädchen und Christian, der Knecht von Drevenaars Bauernhof.
Tilla mochte den Christian gut leiden. Im Winter, wenn die Arbeit für die Knechte nicht so hart war wie zu den anderen Jahreszeiten, dann redeten sie oft miteinander.
„Kommst du morgen wieder auf den Deich?“, fragte Tilla.
„Soll ich das?“
„Ja. Ich sage dir dann, wie groß das Meer ist.“
Als Christian sie ungläubig anschaute, da erklärte sie ihm: „Lehrer Pannbeckers hat ein Buch, da steht alles drin. Alles über die ganze Welt.“
„Komisch“, sagte Christian.
„Was ist denn daran komisch?“
„Na, dass in ein einziges Buch die ganze Welt hineinpasst.“
„Ist aber so.“
„Gut“, sagte Christian. „Ich komme.“
Tillas Idee
Am nächsten Tag aber dachten die beiden nicht an das Meer. Mitten im Rhein erspähten sie die ersten Eisschollen. Sie glitzerten in der Sonne und waren so leicht, dass der Strom sie wie im Spiel auf den Wellenkämmen tanzen ließ.
Von Tag zu Tag wurden die Schollen dicker und größer und schwerer. Bald ächzte und knirschte es, wenn die Strömung ihre Last rheinabwärts schob. Längst standen Christian und Tilla nicht mehr allein auf dem Deich. Einige Kinder versuchten sogar, am Ufer auf besonders große Schollen zu springen und sich auf dem schwankenden Eis ein Stückchen übers Wasser tragen zu lassen. Das war streng verboten, aber die Kinder wagten es dennoch.
Sie glaubten Lehrer Pannbeckers’ Geschichte nicht so recht, die er in jedem Winter von Stina Basendongk erzählte.
Stina sollte, kaum vierzehn Jahre alt, vor langer Zeit auf einer Eisscholle sehr schnell abgetrieben worden sein. Niemand habe das Mädchen retten können. Noch lange habe man ihr Schreien gehört und immer noch sei es bis zum Ufer gedrungen, als das Kind schon längst von den Nebelbänken über dem Fluss verschluckt worden war.
Die Geschichte des Lehrers schloss stets mit den Worten:
„Manchmal in neblig kalten Nächten, dann kann man Stinas Hilferufe immer noch leise über dem Strom klingen hören. Sie kommt und kommt nicht zur Ruhe.“
Auch der Holzschuhmacher Theo Peters, der ganz allein in einer kleinen Kate am Ende der Dorfstraße hauste, auch der behauptete, er habe Stinas Stimme oft genug deutlich gehört.
Die Kinder wussten nicht, was sie davon halten sollten. Am Rheinufer aber waren die Warnungen des Lehrers und Stina Basendongk und ihre traurige Geschichte bald vergessen. Schließlich wollten die Kinder vorsichtig sein. Schließlich wollten sie nur auf eine ganz große Scholle springen. Schließlich wollten sie nur ein winziges Stück auf dem Eise fahren. Und überhaupt ...
Drei Tage später hatte das gefährliche Vergnügen ein Ende. Am Sonntag lief von Holland her die Nachricht den Fluss herauf: Der Rhein friert zu. Bald darauf begannen sich auch bei Alsum die schweren Eisschollen übereinanderzuschieben, ineinanderzuschachteln, niederzudrücken, aufzutürmen. Ein Eisgebirge mit unzähligen Spitzen und Spalten bildete sich binnen weniger Stunden. Endlich kam das Eis zur Ruhe. Das Poltern und Stöhnen, das Knirschen und Donnern wurde leiser und leiser und verstummte schließlich. Eine tiefe Stille breitete sich aus.
Fast jeder aus dem Dorf, der noch laufen konnte, hatte sich dieses Schauspiel vom Damm aus angesehen. Aber bald waren die Menschen vor der Eiseskälte in die Wärme ihrer Häuser geflohen.
Die Knechte kehrten in das Gasthaus „Zum Goldenen Schwan“ ein. Wegen dieses besonderen Tages und auch, weil sie bis auf die Knochen durchgefroren waren, genehmigten sie sich einen Kornschnaps und ein Bier. Es ging schon auf den Abend zu. Die Sonne stand tief und rot hinter den kahlen Bäumen. Auf dem Damm befanden sich nur noch Tilla und Christian.
„Christian“, sagte das Mädchen, „Christian, kennst du die Engelsbrücke in Rom?“
„Ne, kenne ich nicht“, antwortete der Knecht.
„Hast du denn schon mal ein Bild