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Boris Becker wär’ ich nix!« – ein Satz gleich einem Menetekel, gleich einer monumentalen Mahnung daran, daß wir, die Menschen, die sich nähren von der Presse Arbeit, ohne ihn, den just mit eigener Buchbiographie versehenen Steuerschluri, ziemlich alt aussähen. Ja, ohne Boris wäre nicht nur das Sportjahr 2002 ein endlos fader Brei aus Nebenereignissen und unterklassigen Wettbewerben gewesen, ohne Boris wüßten auch wir, die Kommentatoren und Kritikaster, wenig, wenn nicht nichts zu sagen.

      »Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Ach, was ein atemberaubendes Axiom des modernen Lebens! Nicht auszudenken, gäbe es ihn, den Boris, nicht. Nichts wäre los. Nichts wäre zu erzählen. Über nichts wäre zu berichten. Wir alle wären geworfen ins nihilistische Nano-Nichts der neusten Neuzeit, orientierungslos umherirrend im leeren Raum der Zeit.

      »Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Welch Leit-, welch Stichwortsatz, welch mentale Stütze in Zeiten des Umbruchs und der allseitigen Ungewißheiten. Descartes ex negativo auf den Begriff gebracht: Boris ergo sum.

      Nicht dumm, zog sich Ende November auch der gescheiterte Ex-Davis-Cup-Teamchef Michael Stich am Stichwort- und Leitsatz des Jahres aus dem Existenzsumpf der Belanglosigkeit und zurück ins Licht der Öffentlichkeit. Er und Boris seien jetzt, nach Jahren der erbittertsten Kämpfe um gelbe Bälle und die Aufmerksamkeit der Yellow Press, dioskurische »Kumpels«, hauchte Stich anläßlich einer Showpartie der Tennis-Seniorentour in der Frankfurter Ballsporthalle. Da sei, man halte den Odem an, plötzlich »beinahe Zuneigung« zwischen ihnen, und sie, die beiden weißen Barone, hätten nun, da sie Freunde seien, auch »Lust auf mehr«. Aber bloß Lust auf mehr Tennis.

      »Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Ein Spruchband, das einige der wenigen Frankfurter Zuschauer, Mitglieder des Luckenwalder Tennisclubs, an der Tribüne aufgehängt hatten, drehte diesen Wahnsinnssatz ins noch ein bißchen Würdelosere und brachte nolens volens die irrsinnige Irrelevanz des ganzen Sporttreibens auf den dialektischen Begriff der Sinnleere unserer Tage: »Becker & Stich – Ohne euch wären wir heute ›Synchronschwimmer‹!« stand da. Synchronschwimmer in Anführungszeichen gesetzt und mit Ausrufezeichen versehen, wohlgemerkt. Der Ironie wegen. Oh, welch abgründig witzloses Dasein, diese Welt des Tennis und des Boris Becker!

      Wäre aber, vorsichtig nachgefragt, ein Anführung Warmduscher Abführung Ausrufezeichen nicht doch noch einen Topspin ausgefeilter und augenzwinkerischer, um nicht zu sagen: linkischer gewesen? Bzw. ein Anführung Weicheier Abführung Ausrufezeichen – Fragezeichen?

      Daß wir ohne Boris nix wär’n und daß Boris lieber nix wär’ als ein warmduschendes Weichei, das hat uns das Sport- bzw. Pressejahr 2002 aus- und nachdrücklich reingedrückt, und zwar über alle verfügbaren Kanäle und Printmedien. Live und in voller Laberlänge übertragen wurden u. a. etwaige heikle und harte Handlings mit einem »gierigen Russen-Model« (Bild) und um eine mallorquinische Frickelfinca, parallel angebahnte und wie immer zu bewertende Hautkontakte mit Claudia Schiffer und der USA-Emigrantin Babs Becker sowie der dann heftig aufrückenden »US-Perserin« (Bild) P. Farameh, Boris’ geheime Neigung zu blonden Frauen und die simultane blond strahlende neue Internetkampagne des Unwiderstehlichen; sowie die weiter zunehmenden Glücksminuten des Boris mit seiner Patrice und der Babs mit ihrem Fitneßtrainer als auch deren, Babsens, plötzliche Rückkehr nach Europa; nicht zu vergessen die originären Erkenntnisse des Vaters Becker, man könne sich nicht scheiden lassen und mit Patrice aber auch leider keine Kinder machen, weil das eben nicht gehe, wo doch die Neue Post eine »Tragödie um seinen kleinen Sohn Elias« ertrüffelte und die Münchner Richterin Knöringer so sehr des Beckers Kohle begehre und ihn, den Boris, so der Spiegel, zum »letzten Tie-Break« antreten lasse, der allerdings ohne Knast oder Erschießen endete, weshalb die großartige Gala vermeldete, Boris, das »Mode-As« (BUNTE), sei der von uns allen so heiß ersehnte »Vorreiter der Ich-AG«, sozusagen in Fortsetzung des gnadenlosen Spiegel-Titels aus 2001, auf dem der Unsrige prangte, keusch begleitet nur von einem einzigen, dem ersten Menschen- und dem Gotteswort der Hybris: »Ich«. Weshalb endlich, endlich Boris’ Partner in Pressecrime, Franz Beckenbauer, nicht mehr an sich halten konnte und in die Zeitschrift BUNTE hineinkumpelte: »Boris hat mit seinen 34 Jahren mehr erlebt als alle anderen in seinem Alter. Er befindet sich in einer permanenten Lernphase, aus der er wohl als Sieger herauskommen wird.«

      »Ich weiß, daß ich büßen muß«, sprach Boris Becker nach seinem Steuertribunal und fischte erst mal frischfrei die Schauspielerin Mariella Ahrens, die der BamS unterbreitete, er könne »so gut zuhören«. Währenddessen zahlte Tommy Haas per Gerichtsbeschluß Sponsorengelder in Höhe von 516.794 Euro plus Zinsen an die Mäzengemeinschaft TOSA Tennistalentförderung GmbH zurück, und die Slowakei gewann den Fed Cup. Den Fed Cup? Was’n das? Etwa Tennis?

      Doch, der Fed Cup hat stattgefunden im Sportjahr 2002. Aber ohne Boris Becker war das einfach nichts. Sagen Sie, mal unter uns: Ist da nicht der Sport, das Tennis, der eigentliche Loser des Jahres? Ich zumindest stecke mir eine Träne ins Knopfloch und breite das weiße Taschentuch des Vergessens über all das, all das beckerhaft Ekelhafte und Tennisalptraumartige.

      Sprachskitch

      Die Sprache ist etwas Wunderbares. Täglich stehen wir, sofern wir eine gewisse Aufmerksamkeit entwickeln und das »Gerede des Man« (Heidegger), das anschwellende und abflauende Geschwätz und das flachgestochene Spezialgelaber der politischen, ökonomischen und bürokratischen Pressure-groups und Szenen aus der Distanz betrachten, vor dem »Wunder der Sprache« (Walter Porzig), das die Sprache, die »erste Tat der theoretischen Intelligenz« (Hegel), stets aufs neue und auf wunderbare Weise wie von allein zu vollbringen scheint.

      Freilich sind solche terminologischen und phraseologischen Kreationen und Emanationen wie »Komplexitätserziehung«, »knusperknackig«, »schokoschmackig«, »Emo-Schiene«, »verschlanken«, »Meat Shop«, »Verwöhnaroma« oder »Maßnahmenkatalog« (allesamt verewigt in Eckhard Henscheids Wörterbuch Dummdeutsch) nicht von der unsichtbaren Hand der Sprache, sondern von Sprachdesignern und Sprachingenieuren im Dienste der Manipulation des Bürgers oder des Marktsubjekts geschaffen worden. Die als keusch und rein vorgestellte, gleichwohl nie homogen gewesene Gemeinsprache ist heute stärker denn je durchdrungen von Soziolekten und Slangs, von fachsprachlichen Wendungen und expertokratischen Wortbildungen, und das hat der Sprache auch gutgetan, zumindest i. S. einer begrüßenswerten Verwilderung, ja Chaotisierung des Universums der Rede.

      Wenn man nun aber nach den Werbeklassikern »Arm-Chair-Shopping« oder »Essential Facial Cleaner« und zumal angesichts der Frankfurter Snack-In-Stand-By-Street-Coffee-Bar namens Energy Eatery in einer Anzeige für ein neues Skateboard-Computer-Game lesen muß: »Skitchen Sie an Auto-Stoßstangen, skaten Sie auf beweglichen Objekten und machen Sie Transfers über Spins« – dann befremdet nicht nur die veraltete Höflichkeitsform der Anrede; es enttäuscht der insgesamt leider fehlende Speechschmiß, das mangelnde Sprachskitching, der schwache Bedeutungstransfer. Selbst weitere Hinweise auf irgendwelche »Online-Modi, inklusive Punkte-Challenge und Capture the Flag« retten da nichts mehr.

      Unser Verbesserungsvorschlag wäre daher: »Zieh dir das volle Skitchfeeling rein! Browse über die geilsten Schlitten, surfe auf deinem touchy scharfen Moveboard und whirle in Powerspins und Comearounds über die irrsten Spines, Spoons und Spoilerspans!« Oder vielleicht doch eher: »Cool! Kraß! Kaufen!«

Supismus Co-Autor: Michael Tetzlaff

      In Wörterbüchern sind u. a. folgende Zustandsbezeichnungen, d. h. Dach- und Bündelungsbegriffe für komplexe Sachverhalte verzeichnet: Sozialismus, Kommunismus, Leninismus, Marxismus, Maoismus und Maoam.

      Seit Sonntag, dem 27. April 2003, ist ein – noch nicht lexikalisierter – Neuzugang zu vermelden. Heribert Prantl, einer der letzten denkenden Journalisten hierzulande, mahnte im ARD-Presseclub angesichts des weitverbreiteten Alarmismus seiner Kollegen: »Wir Journalisten neigen ja sehr zum Sofortismus ...«

      Soso, Sofortismus. Das war im Grunde ordentlich gesagt, doch was meinte Prantl da im näheren? Die Schnellschußmentalität

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