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Dasein nicht aus. Es ist aber nicht nur der Schmerz, der uns dazu treibt, sondern auch die Schönheit hat eine solch überschießende Kraft in sich. Wer ständig Barockkirchen besucht, bringt der Schönheit ein Opfer. Offenkundig verhält es sich so, dass wir nicht nur be- und anklagen wollen, sondern wir möchten auch dankbar sein.

      An sich sollte uns das 20. Jahrhundert eine Lehre gewesen sein. Die grausamsten Ideologien dieses Jahrhunderts, Faschismus und Kommunismus, missbrauchten das idealische Streben der Menschen zu ihren verbrecherischen Zwecken. Dieses idealische Streben suchte die Einheit, die dem isolierten Individuum abhanden kam, da ihm die Religion als prägende gesellschaftliche Kraft offenkundig verloren ging. Man sollte diesen Verlust nicht auf die Leichtfertigkeit des säkularen Bewusstseins zurückführen, wie manche Kirchenfürsten vorschnell glauben. Die Menschen sind heute nicht besser oder schlechter als jemals. Der Akzeptanzverlust der christlichen Religion liegt auch an ihr selbst. Aber dies ist nicht unser Thema, sondern worum es hier geht, ist die Überblendung von Ideologie und Intelligenz, die man auch im Faschismus und Kommunismus im großen Stil beobachten konnte. Ernst Bloch sang Loblieder auf Stalin und Martin Heidegger wäre am liebsten der Vorzeigephilosoph der Nazis geworden. Beide haben ihre Verirrungen niemals bereut.

      Die Verführbarkeit des Intellektuellen wäre nicht der Rede wert, wenn wir nicht allgemein mit Rorty die illusionäre Überzeugung hegten, die Vernunft sei von Natur aus objektiv und moralisch integer. Der Begriff des Intellektuellen hat in unserer Kultur einen durch und durch positiven Klang: Der Intellektuelle weiß Bescheid. Er deckt die Machenschaften der Herrschenden auf und wird selbst von ihrer Korruption nicht berührt. Die Vernunft zehrt daher von einer prinzipiellen Unschuldsvermutung. Während wir sonst damit rechnen, dass alles, was Menschen tun und denken, der Korruption unterworfen ist, machen wir bei der Vernunft eine rühmliche Ausnahme. Sie ist unsere heilige Kuh, das Tahiti Gauguins. Die Überzeugung von einer prinzipiellen Unschuld der Vernunft hat ihren Ursprung in der Aufklärung, die mit Voltaire und Rousseau erstmals den Typus des modernen Intellektuellen hervorbrachte. Der Intellektuelle war der Religion feindlich gesonnen oder er ersetzte sie durch einen Vernunftglauben, der sich von der Offenbarung, insbesondere aber von der Kirche, ablöste. Die Vernunft hat dem Menschen das Rechte ins Herz geschrieben, ganz unabhängig von jeder Autorität. Seither ist die Vernunft das, was vorher die Kirche war: Der Ort oder auch Hort der Wahrheit.

      Daher sind wir erschüttert, wenn der Intellektuelle sich als ebenso korrumpierbar erweist wie jeder Mensch sonst auch. Über Jahrzehnte waren in Deutschland Intellektuelle wie Günter Grass oder Hartmut von Hentig diejenigen, die uns anstelle der traditionellen Autoritäten die moralische Richtung vorgaben. Grass denunzierte mit oberlehrerhafter Attitüde Reste vom Faschismus, wo immer er sie aufspüren konnte, nur um schließlich kleinlaut gestehen zu müssen, dass er selbst einmal Angehöriger der SS war. Und von Hentig, der führende aufklärerische Pädagoge der BRD, war liiert mit Gerold Becker, dem langjährigen Leiter der Odenwaldschule, der systematisch Schüler missbraucht hatte, von denen sich viele später aus Verzweiflung umbrachten. Von Hentig bestritt, davon etwas gewusst zu haben und erklärte die Verbrechen leichthin für Erfindungen der Opfer. Der Punkt hier ist nicht, dass auch Intellektuelle irren können. Der Punkt ist vielmehr, dass sie nicht damit rechnen, solche Fehler zu machen und dass auch die Öffentlichkeit nicht damit rechnet, sonst wären wir nicht so erschüttert, wenn solche Abgründe gerade hier zutage treten, wo wir eine heile Welt vermutet hatten. Worum es nun geht, ist dieses: Vernunft, die wir seit der Aufklärung als eine heile Welt ausgespart hatten, ist so korrumpierbar wie überhaupt alles, was es gibt, aber wir scheinen nach wie vor nicht damit zu rechnen.

      Während wir uns im Praktischen die Lehre Freuds zu eigen gemacht haben, wonach unsere Handlungen unbewusst und gegen unseren Willen von undurchschauten, dunklen Motiven gesteuert werden können, die oft genug unserem bewussten, ja sogar unserem moralischen Streben zuwiderlaufen, kennen wir eine solche Dialektik für die Vernunft (noch) nicht oder wenn, dann nur in der marxistisch herablassenden Rede vom „falschen Bewusstsein“, die sich keiner zurück wünscht, weil sie vielfach missbraucht wurde oder sogar dazu erfunden wurde, missbraucht zu werden. In Wahrheit gibt es auch im Theoretischen die gleichen Phänomene, die Freud für das Praktische beschrieben hat: dass wir nämlich radikal gespalten sein können, ohne es zu bemerken. Die Werke von Heidegger und Bloch enthalten tiefe Einsichten und niemand würde ernstlich die Kompetenz von Hentigs bestreiten, was die Pädagogik anbelangt. So war es schon seit den Tagen der Aufklärung. Während Rousseau seinen Erziehungsroman Émile schrieb, ließ er seine eigenen Kinder im Findelhaus verkommen. Das Vertrackte ist: Émile ist ein guter Roman! Das heißt: Auch die Vernunft erlaubt Abspaltungen, die ihre explizite Rede ins Gegenteil verkehren.

      Das Thema dieses Buches ist ein Spezialfall dieser verstörenden Dialektik, nämlich die Verbindung von wissenschaftlichem Scharfsinn und ideologischer Verblendung, die heute dazu führt, dass eine erdrückende Phalanx von Intellektuellen sich einerseits an den nicht genug zu lobenden Naturwissenschaften orientiert, damit aber auf der anderen Seite einen außerordentlich simplen Materialismus verbindet. Dieser richtet sich dann aggressiv gegen die Religion, macht sich aber zugleich zum guten Gewissen der Wissenschaft. Auch hier würde man doch zunächst einmal vermuten, dass die ausdifferenzierte Ratio, die die Naturwissenschaft vor allem auszeichnet, es uns verbieten würde, auf dem Gebiet des Weltanschaulichen derart unter Niveau zu gehen. Und dennoch geschieht es, und zwar gar nicht so selten.

      Ein Beispiel vorweg: Obwohl der Genzentrismus, den Richard Dawkins noch heute vertritt, durch die Systembiologie überholt wurde, bleibt Dawkins von Hause aus zu Recht ein geachteter Wissenschaftler. Liest man hingegen sein Buch „Der Gotteswahn“, in dem er alles Übel der Welt auf die Religion zurückführt, dann schämt man sich für diesen Gelehrten, der sich derart unter Preis verkauft. In einem Interview wurde er gefragt, wie es denn käme, dass die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, Hitler, Mao, Stalin oder Pol Pot, keine religiösen Menschen gewesen seien, wenn doch alles Böse von der Religion komme. Da gab er trocken zur Antwort, diese Verbrecher seien alle religiös gewesen. Auch der Faschismus und der Kommunismus seien eine Religion. Das heißt: Von der Religion kommt alles Schlechte und alles Schlechte ist ex definitione religiös. Diese These ist unwiderlegbar, aber nur, weil sich Dawkins gegen jede Kritik immunisiert hat. Er verkündet vollmundige Tautologien.

      Woher kommt es, dass hoch angesehene Wissenschaftler oder auch Philosophen derart unter Niveau gehen? Es scheint, dass sie selbst von Motiven gesteuert werden, die zwar nicht religiös, aber dem Religiösen insofern verwandt sind, als dass sie auf die Einheit aller Dinge zielen, die sie monistisch fassen. Der materialistische Monist erkennt hinter dem bunten Wechsel der Erscheinungen ein Identisches mit klar durchschaubaren Eigenschaften. Das Reale ist Materie und nichts als Materie und ihre wesentlichen Eigenschaften sind Zufall und Notwendigkeit: der blinde Zufall und ebenso blinde Naturgesetze. (Daher Dawkins’ Titel „Der blinde Uhrmacher“.) Der Materialist weiß also ein für alle Mal, woran er mit sich und mit der Welt dran ist. Er erspart sich das Bodenlose des Glaubens, die Kontingenz des Wissens, den bohrenden Zweifel, die unaufhebbare Vieldeutigkeit der Erfahrung. Der materielle Seinsbestand trägt und bestimmt in einem monistischen Sinne alle höheren Formen, Bewusstsein, Moral und Kultur eingeschlossen. Selbst die verschwenderische Fülle des Lebendigen reduziert sich auf ein einziges Prinzip. Lebewesen sind nach Dawkins nichts als blind programmierte Überlebensmaschinen. Sie haben keine eigene Substanz oder Bedeutung, sondern sie gehen darin auf, rein funktional fürs Überleben programmiert zu sein. Daher sieht Dawkins keinen Unterschied zwischen technischen Artefakten und Lebewesen.3

      Die Welt wird in dieser Sicht auf eine verhängnisvolle Weise eins, indem nämlich alle Unterschiede eingeebnet werden. Aber gerade das macht die Attraktivität des materialistischen Monismus aus, besonders für diejenigen, die die Religion aufgegeben haben und die nun statt Gott einen neuen Einheitspunkt in der Flucht der Erscheinungen suchen, letztlich einen existentiellen Halt, der sie psychisch stabilisieren soll. Es sieht fast so aus, als sei die Suche nach der Einheit aller Dinge eine Art anthropologischer Konstante. Plato hat sie mit der Sexualität verglichen und das gibt uns einen Hinweis auf ihren irrationalen Charakter. So wie Sexualität die Menschen oft in die unwirtlichsten Verhältnisse hintreibt, indem sie sich spielend über alle Vernunftprinzipien hinwegsetzt, so scheint auch der metaphysische Trieb zur Einheit von der Art, dass er die Vernunft spielend hinter sich lässt, um eine oberflächliche Ideologie

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