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wie er gelegentlich äußerte.31 Die geistesgeschichtlichen Wurzeln jener Epoche, die wir heute als Moderne bezeichnen, liegen jedoch keineswegs nur in der via moderna des Spätmittelalters, sondern mindestens ebenso in der via antiqua. Die reformierte Reformation und Calvin distanzierten sich niemals derart von der via antiqua, wie Luther es tat. Einer der Gründe besteht darin, dass der Reformator von Genf die gesamte Scholastik einschließlich der via moderna für viel zu überholt hielt, um von ihr noch irgendetwas retten zu wollen.32 Hinzu kommen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexte, in denen sich Luther und Calvin bewegten. Die veränderten politischen und kirchlichen Verhältnisse nötigten Calvin dazu, seine theologischen Gedanken zu systematisieren, um der bedrängten reformatorischen Bewegung »unter dem Kreuz« eine feste Grundlage zu geben. Unter dem zunehmenden Druck des tridentinischen Katholizismus nahm die reformierte Theologie immer mehr die Gestalt eines festen Lehrsystems an. »So kam es, dass der Calvinismus eine präzise Zusammenfassung der Grundprinzipien der Heiligen Schrift durch ganz Europa bis zu den Ufern der Neuen Welt trug. Von nun an verwandelte der internationale Protestantismus Luthers Verteidigung des Katholizismus in ein entschieden antikatholisches Programm für das Leben und Denken.«33

      Fragen wir nach den bisherigen Ausführungen nochmals wie sich die Begriffe Reform und Reformation zueinander verhalten, so ist der |21| Unterschied zwischen beiden nach evangelischem Verständnis kein gradueller, sondern ein kategorialer. Die Zurückhaltung der Reformatoren gegenüber dem überkommenen Begriff Reformation erklärt sich daraus, dass er stets im Sinne einer von Menschen zu bewerkstelligenden Reform verstanden wurde. Ist aber die Kirche grundlegend eine Schöpfung des Wortes Gottes, so bezeichnet der Begriff Wort Gottes im reformatorischen Sinne nicht etwa nur die Norm, sondern die schöpferische Kraft, welche das eigentliche Subjekt jeder wahren Reform der Kirche ist. Reformation im evangelischen Sinne bezeichnet also eine Reform der Kirche, welche nicht als Werk des Menschen, sondern als Gabe des göttlichen Geistes, als Frucht des sich neu Gehör verschaffenden Wortes Gottes zu begreifen ist.

      Reformatorisch in diesem Sinne ist, mit Bernd Hamm gesprochen, »was – im Hinblick auf die mittelalterliche Theologie – systemsprengend ist«34. Der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, die 1999 vom Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche unterzeichnet wurde, zum Trotz erweist sich die Rechtfertigungslehre aller bedeutenden Reformatoren bis heute als systemsprengend und auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das Kirchen- und Amtsverständnis als nicht in den römischen Katholizismus integrierbar.

      Von diesem qualifizierten Begriff des Reformatorischen aus bestimmt sich auch die Verwendung der Bezeichnung »reformiert« im evangelischen Kontext. Noch im Verlauf des 16. Jahrhunderts kam für die sich bildenden evangelischen Kirchen die Bezeichnung »reformatae nostrae ecclesiae« auf, wobei auf lutherischer Seite an das Augsburgische Bekenntnis als Maßstab gedacht war.35 Vertreter der Schweizerischen Reformation sprachen der lutherischen Kirche allerdings rundweg ab, wahrhaft reformiert zu sein, da sie noch Reste des Papsttums in sich duldete. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach verlangten die Kirchen der reformierten Reformation im Vergleich zum Luthertum eine reformatio purior. Im französischen Sprachraum bezeichneten sich die Calvinisten als »Ceux de la Religion réformée« und wurden 1576 offiziell als »Religion prétendue réformée« anerkannt. Dieser Sprachgebrauch wurde von den deutschsprachigen Kirchen Zürcher und Genfer Prägung übernommen, wobei die Selbstbezeichnung |22| als »nach Gottes Wort reformiert« zum Ausdruck bringt, daß Gott selbst das eigentliche Subjekt der Reformation ist und bleibt.

      Neben der Selbstbezeichnung »reformiert« führen aus der Reformation hervorgegangene Kirchen freilich auch die Bezeichnungen »evangelisch« oder »protestantisch«, wobei »protestant« oder »protestante« im englischen und französischen Sprachraum als Synonyme für »evangelisch« verwendet werden, da man unter »evangelical« zumeist nicht »evangelisch«, sondern »evangelikal« versteht.36 Als protestantische Kirchen bezeichnet man die Kirchen der Reformation oder die aus ihnen hervorgegangenen, aber auch die vorreformatorischen Kirchen der Waldenser oder der Hussiten, die sich später der Reformation angeschlossen haben. Die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), ehemals Leuenberger Kirchengemeinschaft genannt, heißt im Englischen »Community of Protestant Churches in Europe«. Ihr gehören heute 105 protestantische Kirchen an, lutherische, reformierte, unierte und methodistische Kirchen, die Waldenserkirche in Italien sowie die Tschechoslowakische Hussitische Kirche.

      Wer den Begriff des Protestantischen gebraucht, hat zu beachten, dass Protestantismus nicht einfach mit der Gesamtheit protestantischer Kirchen gleichzusetzen ist. Der Protestantismus als religiöse und kulturelle Größe reicht über die Grenzen bestehender Kirchen hinaus. Die Bezeichnung »Protestanten« für die Anhänger der Reformation geht auf die Protestation der evangelischen Stände vom 19. April 1529 auf dem 2. Reichstag zu Speyer zurück. Die katholischen Stände hatten sich auf ein tatkräftiges Vorgehen gegen die Evangelischen geeinigt und beschlossen die Aufhebung des die Durchführung der Reformation begünstigenden Speyrer Abschieds von 1526. Sechs Fürsten und vierzehn oberdeutsche Städte legten dagegen in einer feierlichen Protestation Widerspruch ein. Diese trug ihnen bei ihren katholischen Gegnern den Namen »Protestanten« ein.

      Erst im 17. Jahrhundert wurde es üblich, in einem neutralen Sinne das reformatorische Christentum als »protestantische Religion« oder als »protestantische Kirche« zu bezeichnen. Im 18. Jahrhundert entstand schließlich der substantivische Begriff »Protestantismus«, der seine Bedeutung im Zusammenhang mit der sowohl von der Aufklärung (Rationalismus) als auch vom Pietismus an der sogenannten altprotestantischen Orthodoxie geübten Kritik gewann. Im Kontext des |23| Systemdenkens des deutschen Idealismus versuchte man, das Wesen des protestantischen bzw. evangelischen Christentums aus einem Prinzip zu erklären, worunter man vornehmlich die Freiheit des Gewissens bzw. der Gesinnung verstand (Johann Gottfried Herder, Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Der Protestantismus als Ermöglichungsgrund der Freiheit konnte sowohl bürgerlich-liberal (»liberale Theologie«, Richard Rothe) als auch national-konservativ (Friedrich Julius Stahl) ausgelegt werden.

      Friedrich Schleiermacher (1768–1834) versuchte, den Protestantismus inhaltlich näher zu bestimmen. Während der Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen zu Christus von seinem Verhältnis zur Kirche abhängig mache, mache der Protestantismus umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche von seinem Christusverhältnis abhängig.37 Schleiermachers Schüler August Twesten, der Theologe Albrecht Ritschl und andere sprachen später von zwei Prinzipien des Protestantismus: Das reformatorische Schriftprinzip (»sola scriptura«) sei das Formalprinzip, die Lehre von der Rechtfertigung das Materialprinzip des Protestantismus. Beide zusammen kennzeichneten das Wesen protestantischer Freiheit.

      Erst Ernst Troeltsch führte die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus ein.38 Die Zäsur zwischen beiden markiert die europäische Aufklärung. Um den Neuprotestantismus näher zu charakterisieren, wird auch vom Kulturprotestantismus gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Protestantismus ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Moderne einnimmt und an der Gestaltung von Welt und Kultur mitarbeiten will, ja, letztlich davon überzeugt ist, dass zwischen Christentum und Moderne eine Synthese zu erzielen ist. Diesem Ziel wusste sich insbesondere der 1863 in Deutschland gegründete Protestantenverein verpflichtet.

      Zu beachten ist freilich, dass es sich bei »Kulturprotestantismus« nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern um einen Kampfbegriff aus dem Wortschatz der Dialektischen Theologie handelt, die nach dem Ersten Weltkrieg die Antithese zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts formulierte.39 Namentlich Karl Barth erneuerte den Begriff |24| »evangelisch« und grenzte ihn vom Begriff protestantisch ab, weil er die neuprotestantische Synthese von Christentum und Kultur einer grundsätzlichen theologischen Kritik unterzog.

      Eine positive Deutung des Protestantismusbegriffs formulierte demgegenüber Paul Tillich. Er prägte die Formel von katholischer Substanz und protestantischem Prinzip.40 Kirche und Christentum benötigten beides. Das protestantische Prinzip, verstanden als das prophetische Element der Kirchengeschichte, das in der Reformation auf die Formel von der beständig zu reformierenden Kirche gebracht wurde (ecclesia reformata semper reformanda), dürfe nicht als Selbstzweck verstanden, sondern müsse komplementär

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