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Entwicklung weckte, war das kleine Instrument, das den neuen Rhythmus des industriellen Lebens regulierte, relativ dringlich. Eine Wand- oder Taschenuhr war nicht nur nützlich, sie verlieh auch Prestige, und so werden nicht wenige für ihren Erwerb die letzten Ersparnisse geopfert haben. [...] Selbst Arbeiter mochten ein bis zweimal in ihrem Leben unerwartet zu Geld kommen und dafür eine Uhr erstehen: für den Wehrsold, einen Ernteverdienst oder den Jahreslohn eines Dieners. In manchen Teilen des Landes wurden Uhrenclubs (clock and watch clubs) zu gemeinschaftlichem Ratenkauf gegründet. Die Taschenuhr war die Sparkasse des kleinen Mannes, in schlechten Zeiten konnte sie verkauft oder verpfändet werden. [...] Wann immer eine Gruppe von Arbeitern ihren Lebensstandard zu erhöhen vermochte, gehört der Erwerb von Uhren zum ersten, das die Beobachter vermerken. Nach Radcliffes bekanntem Bericht über das goldene Zeitalter der Handwerker in Lancashire in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte jeder Weber »eine Uhr in der Tasche« und jedes Haus war »wohl ausgestattet mit einer Wanduhr in einem eleganten Mahagoni- oder sonstigen modischen Gehäuse«.9

      Und wie kam die Uhrenindustrie in die Schweiz? Wohl durch puren Zufall. Der 1685 geborene und 1741 verstorbene Daniel JeanRichard, ursprünglich von Beruf ein Schlosser, gilt als Gründer der Branche. Ihm soll ein Pferdehändler nach vorübergehendem Aufenthalt im Ausland im Jahr 1679 eine in London gefertigte Taschenuhr gebracht haben, die »in Unordnung gekommen« war. JeanRichard tat das, was man noch vor einigen Jahrzehnten den Chinesen nachsagte: Er zerlegte die Uhr, reparierte sie wohl auch; doch sie diente ihm vor allem als Vorlage für die Entwicklung eigener Uhren. Anfang des 18. Jahrhunderts begründete er im Schweizer Kanton Neuenburg die Uhrenindustrie, die sich bald zum bedeutendsten Wirtschaftszweig des Landes entwickelte. Begünstigt wurde dies durch den Zuzug von Uhrmachern, die nach der Aufhebung eines Ediktes 1685 aus Frankreich aus religiösen Gründen vertrieben wurden und Zuflucht im protestantischen Genf gefunden hatten.

      1 Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit, Original 1967, hier nach deutsche Ausgabe Köln 1970, S. 260.

      2 Ramon Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer. Mit Mano Negra durch Kolumbien, Hamburg 2008 (Original Paris 1994. Der Rockmusiker Manu Chao durchquerte mit seiner damaligen Band La Mano Negra in einem aus Schrotteilen zusammengeschmiedeten Zug mit einer Gruppe französischer und kolumbianischer Künstler (»Zigeuner«) das ländliche Kolumbien, teilweise auf längst nicht mehr befahrenen Gleisen. Sein Vater Ramon Chao dokumentierte die zeitlose Reise.

      3 Das Gebetläuten (auch Gebetsläuten oder – in anderen katholischen Regionen – Angelusläuten) fand regelmäßig abends, meist um 18 Uhr statt. Es war, wenn ich mich korrekt erinnere, ein einfaches Läuten, ein mehrfacher Schlag des Klöppels gegen die Glocke, also ohne ein Schwingen der Glocke.

      4 Erhard Oeser, Zeitpfeil und Zeithorizonte, in: Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume. Herausgegeben von Martin Bergelt und Hortensia Völckers, Wien 1991, S. 171.

      5 Zitiert bei Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis: Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München – Zürich 1990, S. 26.

      6 Fürstin Flott, Interview mit Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, in: PS Welt – Die Zukunft der Mobilität, Das Automagazin der Welt am Sonntag, September 2017.

      7 Zitiert bei Edward P. Thomson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Derselbe, Plebe­ische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1980, S. 41.

      8 Edward P. Thomson, a. a. O., S. 42.

      9 Ebenda, S. 44.

      10 Gisbert L. Brunner, Das war hier schon immer so. Im Vallée de Joux, dem Mekka der feinen Uhrmacherei, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. Oktober 1993.

      11 Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt/Main 1988, S. 80.

      Kapitel 2: Die Industrialisierung als Zeitmaschine

      Seitdem unsere Zeit einem Einheitsmaß unterworfen ist und des Tages Goldbarren zu Stunden gemünzt wird, wissen die Fleißigen aller Berufe jede Minute zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wer aber seine Zeit sorglos vertändelt, ist in Wahrheit ein Geldverschwender.

      Jetzt waren die Londoner Zifferblätter weiß. Viele Uhren hatten Sekundenzähler wie vorher nur die Schiffschronometer. Uhren und Menschen waren genauer geworden. John [Franklin] hätte das gut geheißen, wenn daraus mehr Ruhe und Gemessenheit entstanden wäre. Stattdessen beobachtete er überall nur Zeitknappheit und Eile. Oder wollte nur für ihn, John, niemand mehr seine Zeit opfern? Nein, es musste eine allgemeine Mode sein. Der Griff zur Uhrkette war häufiger geworden als der zum Hut. Man hörte kaum Flüche, der Ausruf »Keine Zeit« war an ihre Stelle getreten.

      Die regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, erfasst unter anderem in hochwissenschaftlichen Kalendern, spielte in vielen Kulturen eine wichtige Rolle, auch wenn der Alltag der Menschen eher grob als Abfolge von Tag und Nacht, von Sonne und Mond bestimmt war. In der Landwirtschaft gaben oft die Tiere ihre spezifischen Zeitsignale; der Hahnenschrei kündigte den Sonnenaufgang an und spätestens mit dem Brüllen der Milchkühe mussten dieselben gemolken werden. Am Abend musste das Vieh in den Stall getrieben werden. Das klösterliche Leben und die Seefahrt waren an Zeiten ausgerichtet; im Kloster waren es Rituale, auf einem Schiff die überlebensnotwendige Technik.

      Die Zeit als Maß für verausgabte Arbeit gab es seit Jahrhunderten. Karl Marx beschreibt gut, wie er selbst noch den Übergang der mittelalterlich-handwerklichen Arbeit mit der ursprünglichen Zeitbestimmung als Wert aller Arbeit erlebte:

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