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      »Es ist seltsam, er hat nicht geantwortet, obwohl er sich zuerst so gebärdete, als könnte es mit der Scheidung nicht schnell genug gehen«, sagte Angela Schlüter, die wieder einmal bei ihrem Chef, Professor Fabricius, saß, nachdem sie den ganzen Tag lang fleißig für ihn getippt hatte.

      »Jetzt ist er am Zug. Sie müssen abwarten, ob Sie wollen oder nicht, liebe Frau Angela. Oder hat Ihnen der kluge Doktor etwas anderes gesagt?«

      »Nein. Er hat vorsichtshalber eine Kopie des Briefes an die Privatwohnung geschickt. Einer der beiden Briefe muss ja in Kurts Hände gelangt sein. Offenbar ist es ihm im Augenblick nicht mehr so eilig. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Vor allem sorge ich mich um Bastian. Ich hatte meinen Mann durch den Anwalt bitten lassen, mir die Adresse des Internats mitzuteilen, in dem sich Bastian befindet. Der Anwalt meinte, es sei mein Recht, die Adresse zu erfahren. Kurt könne mir nicht verwehren, mit meinem Kind in Verbindung zu treten. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb es mein Mann vorzieht, überhaupt nicht zu antworten.«

      »Es muss sehr hart für Sie sein, Frau Angela.«

      »Manchmal habe ich Angst, dass meine Nerven nicht durchhalten, Herr Professor. Aber Dr. Immerling hat mir ein bisschen Mut gemacht. Das Recht ist auf meiner Seite, denn aus einem der Briefe meines Mannes geht glücklicherweise einwandfrei hervor, dass ich ihn nicht aus freien Stücken verlassen habe, sondern auf seinen Wunsch hin aus dem Haus gegangen bin. Man könnte auch sagen, dass er mich verstoßen hat. Aber das hört sich gar zu dramatisch an, wenn es auch leider die bittere Wahrheit ist.«

      »Haben Sie denn gar keine Möglichkeit, den Aufenthaltsort Ihres Sohnes selbst herauszufinden? Immerhin gibt es in Deutschland eine polizeiliche Meldepflicht, und das Internat wird dieser gesetzlichen Pflicht unter allen Umständen nachkommen.«

      »Ja, mag sein. Aber ich weiß nicht, was mein Mann dort über mich erzählt hat. Es könnte sein, dass er verboten hat, Bastian mit mir sprechen zu lassen. Das wäre entsetzlich. Ich könnte es nicht ertragen.«

      »Ja, das ist verständlich. Was tun wir also, Frau Angela?«

      »Ich habe schon daran gedacht, mich einmal mit unserem Chauffeur und Hausdiener in Verbindung zu setzen. Mit ihm habe ich mich immer besonders gut verstanden. Ich glaube, er würde mir die Adresse des Internats sagen, wenn er sie kennt. Henry hat Bastian sicher im Wagen hingebracht. Also muss er auch wissen, wo sich das Heim befindet.«

      »Nun, wäre das nicht eine Möglichkeit?«

      »Vielleicht. Aber ich möchte weder den Jungen noch mich selbst einer peinlichen Situation aussetzen. Wie ich schon andeutete, fürchte ich, mein Mann hat irgendwelche Vorsorge getroffen, damit ich keinen Zugang zu meinem Sohn erhalte.« Angelas Stimme zitterte ein bisschen. Dass sie vor Kurt Schlüter, dem Mann, den sie vor vielen Jahren aus echter Liebe geheiratet hatte, jetzt Angst empfand, war nicht zu verkennen.

      Dem alten Professor tat das Herz weh. Er wusste nicht, was für einen Rat er seiner Sekretärin geben sollte.

      »Weiß denn der Chauffeur Henry wenigstens Ihre Adresse hier in Heidelberg, Frau Angela?«, erkundigte er sich zögernd.

      »Ich glaube schon. Er hat mir einmal Sachen gebracht. Aber sicher bin ich nicht, ob er sich erinnert.«

      »Würde er Ihnen nicht eine Nachricht zukommen lassen, falls es Ihrem kleinen Jungen nicht gut ginge?«

      »Selbst dessen bin ich nicht sicher. Es ist möglich, dass er aus Furcht vor meinem Mann einen solchen Schritt nicht wagen würde.» Angela Schlüter schlug die Hände vors Gesicht, damit ihr Chef ihre Tränen nicht sehen sollte.

      »Nicht weinen, Frau Angela! Dr. Immerling wird sich schon etwas einfallen lassen, sobald eine Antwort von Ihrem Mann eintrifft. Sie sind bis jetzt stark und geduldig gewesen. Nun müssen Sie tapfer weiter ausharren, so schwer es Ihnen auch fallen mag.«

      »Ich bin nun schon so entsetzlich lange von Bastian getrennt. Ein Kind vergisst schnell. Außerdem muss ich fürchten, dass mein Mann den Jungen gegen mich aufgehetzt hat. Wie soll das nur enden? Muss ich mich damit abfinden, dass ich alles verdorben habe: Die Liebe meines Mannes, mein Glück und das Herz meines Kindes?«

      Der alte Herr wusste keine Antwort darauf. Am traurigsten war für ihn die Erkenntnis, dass Angela Schlüter auch jetzt noch ein Gefühl der Zuneigung für ihren Mann zu haben schien, obwohl dieser sie so hart und schlecht behandelt und sie sogar regelrecht verstoßen hatte.

      *

      »Ich hab’ Kopfweh. Und in meinem Hals kratzt es, Schwester Regine.« Bastian saß missmutig in seinem Bett und wollte nicht aufstehen.

      Schwester Regine, für das Wohl der Kleinen und Kleinsten in Sophienlust verantwortlich, sah den Jungen zweifelnd an. Er hatte schon des Öfteren Theater gespielt und geflunkert, sodass sie bei ihm nun nicht wusste, woran sie war.

      »Echt, Tante Regine«, versicherte Bastian kläglich. Er redete Schwester Regine manchmal formell mit »Schwester« manchmal aber auch mit »Tante« an.

      Schwester Regine legte ihre Hand auf die Stirn des Jungen, die sich tatsächlich heiß anfühlte.

      »Ich werde das Thermometer holen, Bastian. Du kannst vorerst im Bett bleiben.«

      Bastian ließ sich auf sein Kopfkissen zurückfallen. Er seufzte erleichtert, denn das Aufstehen war ihm wie eine unüberwindliche Aufgabe erschienen. Er fühlte sich wirklich schlecht.

      Schwester Regine erschien mit dem Fieberthermometer und steckte es ihm in den Mund. »Schön unter die Zunge, Bastian. So ist’s recht.«

      Bastian lag ganz still, während die Kinderschwester das Bett des anderen kleinen Jungen in Ordnung brachte. »Wenn du Fieber hast, bringe ich dich gleich hinüber ins Krankenzimmer, damit Fritzchen sich nicht ansteckt, Bastian«, erklärte sie dabei.

      Nun, Bastian hatte tatsächlich nicht nur leicht erhöhte Temperatur, sondern beinahe neunundreißig Grad Fieber. Schwester Regine war ehrlich erschrocken und informierte sogleich Frau Rennert, die daraufhin mit der Ärztin telefonierte. Dr. Anja Frey versprach sofort zu kommen. Sie legte dabei eine merkwürdige Eile und Entschlossenheit an den Tag.

      »Halsschmerzen, hohes Fieber, Kopfweh?«, hatte sie am Telefon wiederholt. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen. Legen Sie den Jungen ins Krankenzimmer, und lassen Sie die anderen Kinder nicht zu ihm.«

      Nun, das war in Sophienlust sowieso eine Selbstverständlichkeit. Sobald ein Kind irgendwelche Krankheitssymptome zeigte, wurde es vorsichtshalber isoliert.

      Schwester Regine machte das Krankenzimmer zurecht, das glücklicherweise ziemlich lange leergestanden hatte. Dann wickelte sie Bastian, der still und brav alles mit sich geschehen ließ, in eine Decke und trug den großen Jungen über den Flur ins andere Zimmer.

      »Bin ich sehr krank, Schwester Regine?«, fragte Bastian. »Mir tun die Beine weh.«

      »Es wird schon nicht so schlimm sein. Gleich kommt Frau Dr. Frey und untersucht dich. Dann kriegst du wahrscheinlich eine Spritze oder ein paar Tabletten.«

      »Vor Spritzen hab’ ich Angst. Mein Vati mag auch keine Spritzen. Er hat nicht erlaubt, dass ich gepiekst werde.«

      »Nun, das wollen wir Frau Dr. Frey überlassen. Dein Vati ist ja jetzt auch nicht hier. Wir können ihn also nicht fragen. Du willst doch aber sicher schnell wieder gesund werden, damit du wieder mit den anderen Kindern spielen kannst.«

      »Ach«, seufzte Bastian aus tiefstem Herzensgrund, »die spielen ja doch nicht mit mir.«

      »Das liegt nur an dir. Wenn du nett und freundlich wärst, würden sie bestimmt mit dir sprechen, Bastian. Aber du hast sie immer angefahren und mit deinem Hund Wiking angegeben. Das mögen die anderen Kinder nun mal nicht leiden.«

      »Es ist schade«, rang es sich von Bastians Lippen. »Vati sagt immer, man darf sich nichts gefallen lassen. Aber ich glaube, dass man auch mal nachgeben muss.«

      »Stimmt genau, mein Kleiner. Pass auf, wenn du wieder gesund bist, werden die

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