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der Bevölkerung bedeutet das selbst unter normalen Bedingungen stagnierende Löhne und weniger soziale Sicherheit. Auch der Casinokapitalismus verschärft also die Nachfragekrise, die die Kapitaleigner eigentlich aussitzen wollten.

      Weil das spekulative Kapital aber Blasen bildet, die nicht durch nachhaltiges Wachstum der Realwirtschaft gedeckt sind, wird der globale Finanzkapitalismus immer wieder von Finanzkrisen erschüttert. Platzende Blasen führten zu Finanzkrisen in Japan (1990), Mexiko (1994), Asien und Russland (1997/8) und Argentinien (1999). Das Zentrum des Finanzkapitalismus, die Vereinigten Staaten, wurden durch das Platzen der Dotcom-Blase (2000), des Subprime-Immobilienkreditmarktes (2007), das Einfrieren des Repo-Marktes (2019) und die Coronakrise (2020) erschüttert.

      Um den Infarkt des Finanzsystems zu verhindern, spannen Zentralbanken und Staaten gigantische Rettungsschirme über die Spieler, die sich verzockt haben. Aus den Schuldenkrisen der Privatwirtschaft werden so Staatsschuldenkrisen.

      Aber auch außerhalb von Krisenzeiten sehen viele Staaten keinen Ausweg aus ihrer Zwangslage als das Schuldenmachen. Eingeklemmt zwischen Standortsicherung und Daseinsvorsorge bleibt vor allem den Kommunen nicht viel mehr, als ihre unlösbaren Finanzierungsprobleme auf morgen zu verschieben. In der Eurokrise zeigte sich jedoch, welche Risiken mit zu hoher Staatsverschuldung einhergehen.

      Kapitel 5

      Die Staatsschuldenkrise spaltet Europa

      In einer vernetzten Welt breiten sich die Schockwellen wirtschaftlicher Störfälle innerhalb von Sekunden rund um den Globus aus. Wie schon 2008 standen die Staaten auch 2020 vor einem Dilemma. Greifen sie ein, suspendieren sie die Selbstkorrektur der Märkte, und tragen mit billigem Geld zur Explosion der sozialen Ungleichheit bei. Tun sie nichts, kann der Infarkt im finanziellen Herzen des Kapitalismus zu einer wirtschaftlichen Depression führen, mit katastrophalen Folgen für Millionen von Menschen. Letztlich hat in beiden Fällen die Abwehr der kurzfristigen Schäden den Ausschlag gegeben.

      Mittelfristig ruinieren die gigantischen Rettungspakete jedoch die Staatsfinanzen. Wie gefährlich das werden kann, haben die Südeuropäer in der Eurokrise gespürt. Gerade noch mit Steuergeldern gerettet, verweigerten die Geschäftsbanken nun ihren Rettern im hoch verschuldeten Süden Europas den Zugang zu den Anleihemärkten.

      Der ewige Streit um die Staatsschulden

      Der Streit um den richtigen Umgang mit den Staatsschulden entzweit seit einem Jahrzehnt Nord- und Südeuropa. Sollten die Nordeuropäer ihren südlichen Partnern solidarisch unter die Arme greifen? Oder sind die demokratischen Regierungen des Nordens in erster Linie ihren eignen Steuerzahlern verantwortlich?

      Nach einem heftigen Familienstreit wagten die Europäer in der Coronakrise zwar den ersten Schritt in die gemeinsame Aufnahme von Schulden zur Finanzierung eines Wiederaufbauprogramms. Doch gegen den Einstieg in eine »Transferunion« gibt es bei den Nettozahlern, allen voran den »Sparsamen Vier« – Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark – weiterhin hartnäckigen Widerstand.

      Die Allianz der Transfergegner fordert bereits eine neue Runde Austerität für die hoch verschuldeten Euroländer. Der Glaube, dass weitere Sparpakete zur Konsolidierung der Staatsfinanzen im Süden Europas mit demokratischen Mitteln durchsetzbar wären, ist jedoch eine gefährliche Illusion. Die populistischen Revolten, die Südeuropa erschüttern und Großbritannien aus der Europäischen Union katapultiert haben, waren die politische Reaktion auf die sozialen Abstiegsängste, die durch die Verwerfungen der Globalisierung, Automatisierung und Migration befeuert werden. Die neoliberalen Sparorgien bei der Daseinsvorsorge und an den sozialen Netzen signalisierten den Verunsicherten, dass der Staat sie im Stich gelassen hat. Das illusorische »Take back control« der Brexiteers war die trotzige Antwort auf die weitverbreitete Furcht vor dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben.

      Die populistischen Revolten gegen die wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen der Austeritätspolitik in Großbritannien, Griechenland und Italien sind eine deutliche Warnung, dass die demokratischen Souveräne nicht länger gewillt sind, die Kosten für die Rettung der Kapitaleigner zu tragen. Explodiert die Ungleichheit weiter, werden Europas Demokratien von Kultur- und Verteilungskämpfen zerrissen. Eine weitere Dekade Austerität würde einen Tsunami populistischer Revolten auslösen, der die liberale Demokratie in einigen Gründerstaaten Europas zerstören und die Europäische Union auseinanderreißen würde. Die Durchsetzung einer weiteren Runde von Kürzungen bei Löhnen, Daseinsvorsorge und Sozialtransfers ist also mit demokratischen Mitteln nicht möglich.

      Dieser Streit wird mit großer Vehemenz geführt, weil sich dahinter zwei grundlegendere Konflikte verbergen, die das europäische Einigungsprojekt in seinen Grundfesten erschüttern.

      Erstens tobt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedsstaaten ein Verteilungskonflikt um die Frage, wer die gigantischen Kosten der Finanz-, Euro- und Coronakrise zu tragen habe. Sollte den überschuldeten Staaten erlaubt werden, ihre Schulden durch Anleihekäufe der Zentralbank wegzuinflationieren, oder sollten die Kosten über harte Sparpakete an die Schwächsten in den Gesellschaften weitergegeben werden? Vor allem die Verlierer dieser Verteilungskonflikte sind nicht bereit, das Wenige, was ihnen verbleibt, mit den europäischen Nachbarn zu teilen.

      Zweitens wirft der Streit um die »Transferunion« die Frage nach der Finalität auf, sprich: auf welche Endform das europäische Einigungsprojekt eigentlich zuläuft. Sind die Souveräne der Geberländer tatsächlich bereit, sich in eine Haftungsgemeinschaft mit ihren europäischen Nachbarn zu begeben? Und sind die Transferempfänger tatsächlich bereit, den Souveränitätsverlust hinzunehmen, der mit der demokratischen Kontrolle ihrer Fiskalpolitik einhergeht?

      Um die Kräfteverhältnisse in diesen Auseinandersetzungen besser einschätzen zu können, lohnt ein kurzer Rückblick auf die politische Ökonomie der europäischen Einigung.

      Das europäische Einigungsprojekt gründet auf zwei zentralen Versprechen: durch Zusammenarbeit Frieden und Wohlstand für alle zu schaffen. Die Gründungsväter Europas vergemeinschafteten die kriegswichtigen Industrien Atom, Kohle und Stahl mit dem Ziel, die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten so zu verschränken, dass sie nie wieder in der Lage sein würden, Krieg gegeneinander zu führen. Und tatsächlich herrscht in großen Teilen Europas seit mehr als 70 Jahren Frieden; die längste Friedenszeit, die der kriegszerrüttete Kontinent jemals erlebt hat.

      Gebrochen wurde dagegen aus Sicht vieler Europäer das Wohlstandsversprechen12. Statt für einheitliche Lebensverhältnisse zu sorgen, entwickeln sich die Wohlstandsniveaus innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten immer weiter auseinander.

      Das liegt nicht zuletzt an einer Fehlkonstruktion des Herzstücks der wirtschaftlichen Union, der gemeinsamen Währung. Am Anfang der Gemeinschaftswährung stand ein Kuhhandel. Die skeptischen Europäer stimmten der deutschen Wiedervereinigung nur unter einer Bedingung zu: Die größte Volkswirtschaft Europas musste auf ihre eigene Währung verzichten. Vor allem die Franzosen befürchteten, dass ihnen der deutlich bevölkerungsreichere Nachbar den Rang ablaufen würde. Die Beschneidung der Kompetenzen der mächtigen Bundesbank sollte die Machtarithmetik Europas langfristig sichern. Die Europäisierung der harten deutschen Währung gab zudem den neoliberalen Reformern in Frankreich und Italien, die auf sich allein gestellt den Rückbau ihrer Sozialstaaten in den nationalen Kräfteverhältnissen nicht durchsetzen konnten, die Möglichkeit, soziale Einschnitte durch den externen Zwang der Märkte zu begründen oder durch Mandate aus Brüssel zu legitimieren13.

      Für die europäische Friedensordnung war der Handel »deutsche Wiedervereinigung gegen Verankerung des geeinten Deutschlands in Europa«, wie er in den Verträgen von Maastricht festgeschrieben wurde, ein Segen. Wirtschaftliche bewirkte die Vergemeinschaftung der Währung das jedoch das exakte Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention. Gegenüber der alten D-Mark ist der Euro weicher, und verbilligt damit die deutschen Exporte auf dem Weltmarkt. Zugleich machte die Unterdrückung der Lohn- und Sozialkosten der Agendapolitik die deutsche Wirtschaft konkurrenzfähiger. Ohne die Möglichkeit, die eigene Währung abzuwerten, hatten die weniger produktiven Volkswirtschaften der Eurozone kein Ventil mehr, um diesen Konkurrenzdruck auszugleichen. Im Ergebnis drückte die deutsche Exportwirtschaft

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