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Bereichen der Volksmusik und im Jazz. Um es überdeutlich zu sagen: Gute Musik ist immer spontan – entweder weil sie gerade entsteht oder weil sie in der Wiederholung so kommt, als wäre sie gerade eben erst entstanden. Wie ja auch auf der Bühne ein Text so klingen soll, als wäre er dem Sprecher eben erst eingefallen. Das ist natürlich umso schwieriger, je weiter wir – zeitlich, örtlich und kulturell – von der Entstehung entfernt sind. Um die Überbrückung dieser Kluft geht es bei allem Bemühen um gute Musik – so auch in diesem Buch.

      Das alles sollte dem Leser bewusst sein, wenn über die Geschichte der Musik und ihre Spiel- und Singweisen – die Gattungen – geschrieben wird. Das meiste jemals Musizierte ist für immer verklungen. Notiert wurde »erst« vor etwa 1000 Jahren – ungenau und nicht immer eindeutig. Auf Tonträger aufgezeichnet wird erst seit etwa 100 Jahren. Um Musik in ihrer Entwicklung zu verstehen, genügt es jedoch nicht, sie zu hören. Man sollte sich auch der Umstände bewusst sein, unter denen sie entstanden und erklungen ist: die Menschen, ihre Lebensumstände, ihre sozialen und kulturellen Verflechtungen, ihre Lebenswelten, ihre weltanschaulichen und religiösen Bindungen. Deshalb ist Musikgeschichte immer auch Sozial- und Kulturgeschichte. Zu welcher Musik man getanzt oder getrauert, geheiratet oder begraben hat, welche Lieder man am Feierabend, zum Tanz oder im Krieg sang, wie man zum Marsch, zum Triumph oder zum Tod geblasen hat – all das ist ebenso wichtig wie Instrumente, Partituren, Tempo- und Gattungsbezeichnungen.

      Viele Musikgattungen haben ihre Bezeichnung nahe am Geschehen. Am deutlichsten ist es bei der Sonate (lateinisch: sonare/erklingen) und der Kantate (cantare/singen). Die Sonate ist ein Klangstück, die Kantate ein Singstück, gemeint ist Instrumentaloder Vokalmusik. Die Sinfonie steht für den Zusammenklang (verschiedener Instrumente), das Konzert für den Wettstreit (zwischen Instrumenten und/oder Solisten), das Oratorium verbindet Musik mit geistlichem Inhalt (orare/beten). Manche Bezeichnung muss man ausführlich herleiten (Ordinarium, die ordentlichen/gleichbleibenden Teile der Messe) oder sprachlich erklären (Toccata, italienisch: toccare/schlagen, bei Tasteninstrumenten). Bedeutungen haben sich verändert – von der einsätzigen Sonate der Frühzeit zur mehrsätzigen Sonate der Klassik.

      Das griechische Wort für das gemeinsame Erklingen verschiedener Töne findet sich in der Sinfonie. Die frühe Sinfonia war daher ein Stück für ein Instrumentalensemble. Es diente oft als Einleitung für eine Oper oder ein Oratorium, wie eine Ouvertüre. In der Spätromantik war die Sinfonie ein mächtiges Orchesterwerk, das manchmal sogar mehr als eine Stunde dauerte. Einige Bezeichnungen irritieren beim ersten Hören: Canzone, Chaconne, Cantiones. Ist das ähnlich, gleichbedeutend oder total verschieden? Manches kommt aus fremden Sprachen – Anthem (Motette, Kantate), Voluntary (Präludium), anderes von alten Tänzen – Sarabande, Gavotte, Menuett.

      Im Folgenden wird nicht versucht, all diese Gattungen sprachlich, inhaltlich oder historisch zu erklären, sondern sie werden von den Grundfunktionen der Musik abgeleitet. Denn einerseits ergeben sich aus der Erzeugung der Klänge (Spielen und Singen) und andererseits aus ihrer Anwendung (einzeln und gemeinsam, weltlich und geistlich) grundlegende Muster für das musikalische Geschehen:

      1 Das Zusammenspiel und Gegenspiel der Instrumente

      2 Das Spiel auf mechanischen, also Tasteninstrumenten

      3 Das dramatische Zusammenspiel von Gesang und Instrumenten

      4 Die Kunst des solistischen und chorischen Singens

      5 Die spirituelle und religiöse Musik

      1 SONATA QUASI UNA FANTASIA

      SINFONIE, SONATE, KONZERT

      Die allererste und ursprüngliche Form des »gemeinsamen Klingens« – so könnte man die griechische Wortbildung »Sinfonie« übersetzen – ist nicht, wie man vielleicht erwarten würde, die Mehrstimmigkeit, sondern das gleichzeitige Erklingen von Melodie und Rhythmus: Einer singt und ein anderer klatscht dazu in die Hände. In diesem Zusammenklang wurzelt bereits alles, was später in der Musikgeschichte kommen würde. Der Grund dafür ist einfach und einleuchtend: Die Musik ist ein flüchtiges Geschehen. Wenn der letzte Ton verklungen ist, ist alles vorbei. Die Dimension der Zeit hält die Töne in einem Ablauf fest, der unweigerlich zu einem Pulsieren führt – vergleichbar dem Atem, mit dem der Gesang verbunden ist. In der Vergänglichkeit der Musik wurzelt das Pulsieren, begründen sich Takt und Periode, in denen Musik erklingt. Diese Metren können auch unregelmäßig oder weit ausgedehnt sein – aber die zeitliche Dimension bleibt der Musik nicht erspart. Ganz anders ist es bei einem Bild oder einer Skulptur.

      Der einsame Flötenbläser – etwa ein Hirte inmitten seiner Schafe – bleibt allein. Erst der Zusammenklang macht ihn zum »Sinfoniker«. Und zum Zusammenklang braucht es keine »zweite Stimme« – dazu genügt der Schlag des Takts – den vielleicht nur der Fuß besorgt. Töne, die sich zu einer Melodie verbinden, und Zeiträume, die sich zu einem Metrum verbinden, sind also die beiden Urelemente jeglicher Musik. In der Geschichte des Zusammenspielens, des gemeinsamen Musizierens, gibt es zuerst die Einstimmigkeit, mit der etwa viele Mönche die einstimmige Gregorianik aufführten. Die Mehrstimmigkeit entwickelte sich jedoch nicht – wie wir vielleicht erwarten würden – in Begleit-, sondern in kontrastierenden Stimmen. Zwar begann man in parallelen Quarten und Quinten zu singen. Doch das allein wäre auf die Dauer zu monoton gewesen.

      Musik ist aber geradezu das Gegenteil von monotonem (wörtlich: einstimmigem) Tun. Denn die extreme Monotonie wäre ein einziger, lang angehaltener Ton. Erst die Bewegung der Töne – vor allem die Gegenbewegung – machte die Musik lebendig. Daher war die erste musikalische Erweiterung nicht die Harmonie, sondern die Gegenbewegung – der Kontrapunkt. Nach den ersten Versuchen zur Mehrstimmigkeit – liegende, tiefe Töne (Bordun), Parallelbewegung (in Oktaven, Quinten und Quarten) – wagte eine zweite Melodie, sich der ersten gegenüberzustellen: nicht als Begleit-, sondern als Gegenstimme. Das so entstehende kunstvolle Stimmengeflecht der frühen Mehrstimmigkeit – etwa bei Palestrina – ist daher, wörtlich verstanden, die frühe »Sinfonik« der neuzeitlichen Musik.

      Wir wissen heute, dass damals die klangliche Gestaltung – ob vokal oder instrumental, ob durch einen Musiker am Tasteninstrument oder durch viele Sänger und Instrumentalisten – nebensächlich war. Partituren mit genauen Bezeichnungen der Sing- und Instrumentalstimmen waren noch nicht üblich. Man sang oder spielte aus Stimmbüchern, die nur den jeweils eigenen Stimmfluss enthielten. Für den Spieler aller Stimmen (auf Laute, Orgel, Clavicord oder Cembalo) entstanden Tabulaturen – eine Buchstaben- und Ziffernnotation. Die Besetzung der einzelnen Stimmlinien – also etwa Sopran, Alt, Tenor und Bass – war weitgehend frei: ein oder mehrere Sänger, ein oder mehrere Instrumentalisten, gemischt oder getrennt, je nach vorhandenen Kräften und akustischen Notwendigkeiten: etwa zu dritt und zu viert in der Kammer – oder viele Sänger und Spieler in der Kathedrale.

      Den gleichen Tonsatz sang oder spielte man nach Lust oder Bedarf daheim im kleinen Kreis oder allein am mehrstimmigen Instrument, aber auch im großen Ensemble bei repräsentativen Anlässen. Die »Sinfonik« – das Zusammenklingen der einzelnen Stimmen – stand am Beginn der neuzeitlichen Musikkultur, allerdings noch ohne eine strenge Differenzierung in solistische oder gemeinsame, vokale oder instrumentale Ausführung. Erst als es im frühen Barock üblich wurde, Partituren mit der Angabe von Instrumenten und Singstimmen zu schreiben, wurde der Klang festgelegt. Dennoch spielten noch lange Zeit die Lautenisten und die Spieler der Tasteninstrumente Musikstücke, die ursprünglich für den Gesang gedacht waren. In der frühen Cembalo- und Orgelmusik verfließen die Grenzen: sowohl zwischen den Instrumenten als auch zwischen Vokal- und Instrumentalwerken überhaupt.

      Um es drastisch zu sagen: Die »Sinfonia« entstand nicht dadurch, dass ein paar Musiker sagten, spielen wir doch einmal gemeinsam – jeder für sich allein ist ja so langweilig. Sondern das gemeinsame Spielen und Singen war die primäre Praxis – und Vokal- und Instrumentalmusik waren ursprünglich nicht getrennt. Das später in der Romantik so sehr gepflegte unbegleitete »A-cappella-Singen« war eine seltene Ausnahme, etwa an der Sixtinischen Kapelle in Rom. Unbegleitet sang man noch am ehesten im kleinen Kreis und in solistischer Besetzung – im Vokalquartett, wie wir das heute nennen würden. Der frühe Buchdruck bewirkte, dass ab dem 16. Jahrhundert Stimmbücher und Tabulaturen verbreitet

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