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Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen
Читать онлайн.Название Träume von Freiheit - Ferner Horizont
Год выпуска 0
isbn 9783839268063
Автор произведения Silke Böschen
Издательство Автор
»Ja, geh nur zu deiner Mutter! Wenn du so werden willst wie sie, Lieder trällern und feiern – mehr wird aus dir auch nicht, wenn du nicht endlich deine Hausaufgaben machst«, brüllte Henri mit rot angelaufenem Kopf und schwenkte den letzten Rest des Lineals in der Luft.
»Henri, wie kannst du so grausam sein?«, schrie Florence, außer sich vor Wut. »Was machst du denn, hm?! Was kannst du denn? Ich wünschte, du hättest eine Anstellung, dann würdest du uns endlich in Ruhe lassen.«
Henri atmete schwer. »Ah, jetzt halten Mutter und Sohn wieder zusammen. Das ist ja wunderbar. Da ist es doch gut, dass der Junge ab und zu eine Tracht Prügel bekommt, damit ihr zwei euch dann wieder in den Armen liegen könnt.«
Florence warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Komm, mein Schatz, ich bringe dich zur Kinderfrau. Minnie und du – ihr müsst zu Abend essen. Dein Daddy und ich sind heute Abend auf ein Fest eingeladen.«
Vorsichtig zog Florence die Bettdecke zur Seite und strich ihrem Sohn über den Rücken. »Tut es noch sehr weh?«
Der Junge nickte.
Die Kinderfrau soll dir wieder ein paar Umschläge mit kaltem Essigwasser machen. Dann wird es schnell wieder gut.«
Es klopfte. Vor der Tür stand das Dienstmädchen mit einer dampfenden Tasse Kaffee. »Guten Morgen, gnädige Frau. Welches Tageskleid möchten Sie heute zum Gottesdienst anziehen? Ich soll Ihnen vom gnädigen Herrn sagen, dass Sie alle heute den gesamten Tag bei seiner Mutter verbringen werden.«
Florence rollte mit den Augen. »Vielen Dank, Adele. Ich werde das grüne Kleid nehmen. Bitte legen Sie es heraus mit dem passenden Hut und den Handschuhen. Ach, und bitte bringen Sie mir noch ein wenig ausgepresste Zitrone für den Kaffee. Vielleicht kann ich damit die Kopfschmerzen verscheuchen.«
Das Dienstmädchen knickste und verschwand, um die Aufträge zu erledigen.
»Oh, Henry, mein Schatz, da hat sich Daddy gleich etwas Passendes überlegt, um uns den kompletten Sonntag zu verderben. Den ganzen Tag bei Großmutter Antoinette, wie soll ich das aushalten?« Sie ließ sich auf ihr Kopfkissen zurückfallen.
»Aber, Mommy, du hast doch mich!« Henry drückte sich an sie.
Florence rückte ein wenig von ihm ab und betrachtete ihren Sohn nachdenklich. Dieses Kind war ihre Freude. Ihr Glück. Aber dieses Kind war auch der Grund, weshalb sie heute Frau de Meli war – gefangen in einer Ehe, die beide Seiten unglücklich machte. Sie rieb sich die Schläfen. »Komm, mein Schatz, wir müssen uns fügen.«
4. Ein gewöhnlicher Sonntag
Dresden, 20. Februar 1881
Die alte Frau de Meli war stolz auf ihre biegsame Taille. Eng geschnürt, hatte sie sich bis heute eine schlanke Silhouette bewahrt. Das hatte Antony, ihrem Ehemann, gefallen. Er hatte sich gut ausgekannt mit »biegsamen Taillen« und schmalen Hüften. Zu gut. Und dennoch. Er fehlte ihr. Gerade erst war sein erster Todestag gewesen. Antoinette de Meli seufzte. Antony war immer diskret gewesen. Trotzdem war der Gedanke, dass er mit dem angeheirateten Vermögen ihrer eigenen Familie abwechselnde Liebschaften finanzierte, ein scharfer Stachel für Antoinette de Meli gewesen. Aber eine Scheidung kam für sie nicht infrage. Was Gott zusammengeführt hat, darf der Mensch nicht trennen, daran musste man sich halten. Leider galt dieser Grundsatz auch für die unglückliche Verbindung ihres Sohnes mit Florence.
Antoinette seufzte, als die Kammerzofe ihr die langen, grauschwarzen Haare kämmte.
»Oh, gnädige Frau, habe ich zu fest gebürstet?« Elsbeth war erst vor ein paar Monaten in den Rang einer Kammerzofe aufgestiegen, nachdem sich ihre Vorgängerin in die sächsische Schweiz verheiratet hatte.
»Nein, nein. Sie machen das sehr gut! Ich war in Gedanken.«
Erstaunlich, dass immer noch nicht alle Haare grau waren, dachte sie bei ihrem eigenen Anblick. Die Haare fielen wie ein schwerer Vorhang auf ihre Schultern. Die Dienstbotin kämmte weiter. Ganz gleichmäßig, von oben nach unten, immer wieder. Pro Strähne 50 Mal. Das hatte ihr die Herrin so eingeschärft. Es sei gut fürs Haar und für die Kopfhaut. Diese gleichförmige Tätigkeit erinnerte Elsbeth an ihr Zuhause. Dort, auf dem Bauernhof bei Meißen, hatte sie immer die Pferde gestriegelt – bis das Fell glänzte. Jetzt waren es die Haare einer alten Dame. Aber sie glänzten nicht. Sosehr sie auch bürstete.
Antoinette de Meli schloss die Augen und genoss die Zuwendung. Diese Momente waren die einzigen körperlichen Berührungen, die sie noch bekam. Ja, wenn die Enkelkinder zu Besuch waren, dann küssten sie sie auf die eingefallenen Wangen. Aber besonders innig waren diese Begegnungen nicht. Das lag an der Mutter. Florence war schuld. Sie trieb einen Keil zwischen die Großmutter und die Enkelkinder. Antoinette öffnete die Augen. Schon der Gedanke an die Schwiegertochter machte sie bitter. Schnell schloss sie die Augen wieder und überließ sich der französischen Bürste mit den Wildschweinborsten, die unermüdlich durch ihr Haar glitt.
Eine knappe Stunde später saß die Hochsteckfrisur von Antoinette de Meli perfekt. Mit etwas Talcumpuder hatte Elsbeth die schweren Haare griffig gemacht und zu angedeuteten Kränzen auftoupiert und festgesteckt. Nur die Brennschere durfte sie nicht mehr benutzen, nachdem sie ihrer Herrschaft mit dem glühend heißen Gerät einmal ein Brandmal hinter dem Ohr zugefügt hatte. Aber Antoinette de Meli hatte sich bald beruhigt und dies als Zeichen gesehen, von nun an auf kokette Löckchen an der Schläfe zu verzichten. Mit 64 Jahren brauchte sie diese eitle Spielerei nicht mehr. Außerdem verdeckten die Locken ihren Ohrschmuck. Heute hatte sie sich für hellblauen Aquamarine entschieden.
Gleich würde sie ihre Schwiegertochter in der Kirche sehen. Zusammen mit den Enkelchen. Und Henri natürlich. Ihrem Sohn. Ihrem Augenstern. Doch diese Frau trieb ihn in den Abgrund. Der viele Alkohol, die düsteren Momente, sein Jähzorn. Was machte Florence aus ihm? Die Leute tuschelten schon. Nur Florence war überall gern gesehen. Die fröhliche, junge Frau de Meli – immer für einen Spaß zu haben. Dabei benimmt sie sich wie ein Kind, dachte Antoinette grimmig. Oh, hätte Henri diese Frau doch niemals kennengelernt! Hätte sie selbst doch nicht auf die Drapers gehört, die zu einer Vermählung drängten. Schließlich konnte doch Henri nichts dafür, dass Florence ein solches Flittchen war und sich ihm an den Hals geworfen hatte. Es war natürlich das Beste, was dieser Familie passieren konnte. Hatten zwar ihren Namen, ja, »Draper«, an sich keine schlechte Familie. Aber von denen gab es unzählige in den USA. Ausgerechnet die Drapers hier in Dresden gehörten zu der ärmlichen Verwandtschaft. Jetzt hatten sie ihre Tochter gut verheiratet. Das frühreife Ding – Millionärsgattin. Antoinette merkte gar nicht mehr, wie sich ihre Mundwinkel immer weiter nach unten zogen. Wie ihr ganzer Ausdruck verkniffen wurde, wenn sie nur an Florence dachte.
Die Wintersonne schien. Der Platz vor der Kirche füllte sich. Die Glocken läuteten noch nicht, noch war ein wenig Zeit zum Plaudern. Über den gestrigen Abend zum Beispiel. Was für ein gelungenes Fest, lautete die einhellige Meinung. Einige Männer lachten verlegen bei dem Gedanken an die ausgelassenen Stunden. Die Abende im Anglo-Amerikanischen Club gehörten normalerweise nur ihnen. Ehefrauen und Töchter waren einzig zu besonderen Anlässen zugelassen. Gestern war so ein Anlass gewesen. Ein Ball! Sogar gesungen wurde, und ach, ein Zwinkern, ein Räuspern, die Polonaise erst! Ein Heidenspaß! Wo steckte sie denn, die kleine Anführerin des lustigen Tanzvergnügens? Wo war denn die junge Frau de Meli?
Florence stand etwas abseits von der immer größer werdenden Menschenmenge. Trotz der Kopfschmerzen, trotz der zu kurzen Nacht sah sie fabelhaft aus in ihrem grünen Samtkleid, das so gut zu ihren braunen Augen und den brünetten Haaren passte. Witwe Clarkson musterte die junge Frau aus sicherer Entfernung. Donnerwetter, eines musste man ihr lassen, sie sah gut aus. Die Jugend, die Jugend, dachte Witwe Clarkson und seufzte. Die Jugend verzeiht champagnerselige Nächte. Na, das wird sich schon noch ändern. Man brauchte ja nur einen Blick auf ihren Gatten zu werfen. Und tatsächlich, Henri de Meli sah mitgenommen aus. Die Krempe seines Zylinders war viel zu schmal, um das fahle Gesicht mit den Augenrändern zu verdecken.