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da ist der schwache Abdruck einer Büroklammer. Es sieht so aus, als gehört noch etwas zu diesem Papier.«

      Sehr vorsichtig drehte Alexandra das Pergament um und fand auf der Rückseite noch ein weiteres Blatt Papier, einen Briefbogen, der eindeutig jüngeren Datums war. Mit Tinte stand darauf geschrieben:

      Dieses sind die Werte und die Worte unserer Familie und sollen als mein Testament gelten.

      Das Schriftstück war mit den Namen Franz Berger unterzeichnet und trug das Datum aus dem Jahr, in dem seine Frau Sybille gestorben war.

      Verwirrt schaute Daniel die Umstehenden an. »Ich verstehe das nicht ganz. Ist dieses hier das Testament, nach dem alle gesucht haben?«

      »Es sieht so aus«, antwortete Leopold langsam. »Ob es rechtsgültig ist, das muss ein Notar entscheiden.«

      »Aber was sind denn nun diese Werte und Worte unserer Familie, auf die sich mein Vater offensichtlich bezieht?«, rief Daniel ratlos. »Gemeint ist wohl dieses Pergament, aber das ist nicht zu lesen.«

      Alexandra hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt, sondern hochkonzentriert auf den Bogen gestarrt. Jetzt griff sie zu Briefpapier und Stift und begann, einige Schriftproben anzufertigen.

      Daniel schaute ihr gespannt über die Schulter. »Haben Sie eine Ahnung, was es bedeuten könnte?«, fragte er aufgeregt.

      »Ich habe eine vage Idee«, murmelte Alexandra. Sie probierte mehrere Schriftarten und Buchstaben aus, von denen einige dem Schriftstück ähnelten, allerdings genauso unleserlich aussahen. »Kann mir bitte jemand einen Spiegel geben?«, fragte sie stirnrunzelnd.

      Traudel holte einen kleinen aus ihrer Handtasche hervor, und die Künstlerin hielt ihn in einem bestimmten Winkel neben ihre Schriftproben.

      »Spiegelschrift! Sie probieren es mit Spiegelschrift!«, rief Emilia aufgeregt aus.

      Das Mädchen hatte recht: Alexandras eben noch unlesbare Zeichen entpuppten sich als lateinische Buchstaben.

      »Wie cool ist das denn!« Emilia war begeistert. »Das heißt, dass die Schrift auf dem alten Pergament doch noch zu enträtseln ist?«

      »Das hoffe ich«, seufzte Alexandra. »Wenn ich mich nicht stark täusche, ist es zwar Kalligraphie, aber die auch noch in Spiegelschrift. Wir müssten das Papier vor einen größeren Spiegel halten, um es entziffern.«

      »Kommt gleich!«, rief Daniel und stürzte ins nächste Bad, um das Benötigte zu holen.

      »Was ist denn das hier für eine Hektik?«, fragte Robert mürrisch, der gerade aus seinem Zimmer kam und verwundert seinen Bruder mit dem Spiegel in der Hand anschaute.

      »Los, komm mit!«, rief Daniel aufgeregt. »Wir glauben, dass wir endlich das Testament entdeckt haben!«

      »Was?« Sofort war Robert hellwach und spurtete mit seinem Bruder in die Bibliothek.

      »Hier ist der Spiegel. Ich hoffe so sehr, dass wir damit einen großen Schritt weiterkommen«, sagte Daniel.

      »Wir möchten uns rasch verabschieden. Wie es jetzt weitergeht, ist eine Familienangelegenheit, Sie sollten unter sich sein. Vielen Dank für den schönen Abend, und ich hoffe, dass wir uns bald wiedertreffen werden«, verabschiedeten sich Sebastian und seine Familie.

      Daniel dankte ihnen für ihr Verständnis und begleitete sie zur Tür.

      »Ich sollte auch gehen«, sagte Lilly. »Der Landdoktor hat recht, dieses hier ist eine sehr persönliche Angelegenheit, und ich gehöre nicht zur Familie.«

      »Doch!«, wiedersprachen beide Brüder wie aus einem Mund.

      »Ich würde mich freuen, wenn du bleibst«, fügte Daniel leise hinzu.

      Lilly nickte.

      Alexandra hielt den größeren Spiegel neben das Pergament, und langsam wurden auch für die ungeübten Augen die Worte lesbar:

      Der Wahlspruch unserer Familie ist gleichzeitig unser Testament: Dasjenige unserer Kinder, das den Weg seiner alten Eltern bis zum Schluss innig begleitet, soll Haus und Hof vererbt bekommen.

      Unterschrieben war das Papier mit den Namen der Ur-Großeltern, Franz-Joseph und Hedwig-Maria Berger.

      Zunächst herrschte Stille im Raum, dann sagte Leopold nach einem tiefen Atemzug: »Dann hat sich Ihr Vater an diesem Schriftstück orientiert und wollte dem Wahlspruch der Familie folgen.«

      »Und als es ernst wurde, konnte sich Ihr Vater nicht mehr verständlich machen und auf dieses ungewöhnliche Vermächtnis hinweisen«, fügte Alexandra traurig hinzu.

      »Dann bedeutet es wohl, dass das hier sozusagen ein Zeuge für die mündliche Absprache ist, von der Daniel erzählt hat? Dass ›Silberwald‹ ihm zufällt, und Robert durch den Verkauf der Ländereien ausgezahlt wird oder beide Häuser in München erhält?«, fasste Lilly erleichtert zusammen.

      »Was denn, ihr glaubt diesem nichtssagenden alten Gekrakel?«, explodierte Robert. »Das ist doch nie und nimmer ein rechtsgültiges Testament! Das ist eine absurde Spielerei, die vor dem Gesetz keinen Bestand hat. Ein Testament, geschrieben in Kalligraphie und Spiegelschrift, das ist doch lachhaft.«

      »Vielleicht auch nicht«, wehrte Daniel die harten Worte ab. »Morgen kommt Korbinian Wamsler; er wird beurteilen können, ob diese Worte und Vaters angehängtes Schreiben rechtskräftig sind.«

      »Ich verlasse mich doch nicht auf diesen Winkeladvokat, ich lasse das selbstverständlich von meinen eigenen Anwälten bearbeiten«, fauchte Robert.

      »Sicher, tu das«, antwortete sein Bruder müde. Er war diesen Zwist so unsagbar leid. Sollte Robert doch mit den Münchner Häusern zufrieden sein. Die Immobilien passten gut zu ihm und waren bei den heutigen Preisen und in der Lage sogar mehr wert als das Gut.

      »Ich denke, Sie sollten es für heute ruhen lassen und morgen das Gespräch mit dem Anwalt abwarten«, sagte Alexandra diplomatisch. »Es war ein langer, ereignisreicher Tag, und ich glaube, wir alle könnten jetzt etwas Entspannung brauchen.«

      »Und deshalb koche ich jetzt eine große Kanne Lavendeltee und stelle sie in die Küche. Wer mag, kann sich dort einen Becher holen«, verkündete die praktische Rautende. »Ich jedenfalls gehe jetzt schlafen. Gute Nacht, alle miteinander.«

      »Wer will jetzt Kräutertee, ich brauche einen Whisky«, raunzte Robert, bediente sich ungefragt und verzog sich Türen schlagend.

      Lilly biss sich auf die Lippen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um mit ihm über die Trennung zu sprechen. Sie verschob es auf morgen, verabschiedete sich von den anderen und ging in Sybilles Zimmer hinüber. Langsam erloschen die Lichter, und nächtliche Stille senkte sich über das Haus.

      Die junge Frau war zu unruhig, um jetzt schlafen zu gehen. Sie wusste, dass auch Rautendes Kräutertee ihr nicht helfen würde, und beschloss, stattdessen noch ein Stückchen durch die Birkenallee zu gehen. Sie wickelte sich fester in ihren Pashminaschal und verließ leise das Haus.

      Das Gehen durch die sternklare Nacht tat ihr gut und beruhigte ihre Gedanken. Sie liebte diese Allee aus silbrigen Birkenbäumen, die das Haus umrundete. Wenn es nach ihr ginge, dürfte nie einer dieser Bäume gefällt werden. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass Robert diesen friedlichen Weg vernichtet hätte, wenn ›Silberwald‹ an ihn gefallen wäre. Von Herzen dankbar dachte sie an ihre Patentante, deren Kenntnisse es möglich gemacht hatten, dass Daniel letztendlich doch noch zu seinem Recht kam.

      Allmählich merkte Lilly, wie eine angenehme Müdigkeit in ihr aufstieg, jetzt würde sie gut schlafen können. Die junge Frau ging zum Haus zurück und schlüpfte unbemerkt durch die Tür in die Halle. Sie wollte gerade in den Flur zu Sybilles Zimmer einbiegen, als sie auf der anderen Seite einen seltsamen Lichtschein bemerkte. Er wirkte wie der Kegel einer Taschenlampe, der suchend umherstrich, und er kam aus der Bibliothek.

      Lillys Herz begann zu rasen, sollten sich Einbrecher eingeschlichen haben? Unmöglich, die Collies und Lotta hätten Alarm geschlagen. Lautlos schlich sie zur Tür, die ein Stück geöffnet war,

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