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teilen würde.

      Je weiter sie gingen, je mehr Daniel von seinem Leben hier zeigte, desto stiller wurde er. Es strengte ihn mehr an als die Jahre, in denen er seine Zeit zwischen Arbeit und der Pflege seines Vaters hatte einteilen müssen. Das war ihm immer ganz natürlich vorgekommen, trotz der Belastung. Aber nun, an der Seite dieses fremden Bruders, spürte er eine lähmende Müdigkeit und Leere. Entgegen aller Vernunft hatte er sich auf Roberts Besuch gefreut, aber kaum war er drei Tage hier, wünschte sich Daniel die Abreise herbei. Außer Geschäftlichem und Organisatorischem hatten sich die beiden Brüder nichts zu sagen, und Lillys Anwesenheit machte die Situation nicht einfacher.

      Lilly war Daniel gegenüber nicht mehr so kühl wie am ersten Tag, aber sie blieb weiter zurückhaltend, wenn sie mit ihm sprach. Anders als Robert zeigte sie aber ein tief empfundenes Interesse an ›Silberwald‹ und dessen Geschichte. Zu Rautende hatte sie ein herzliches Verhältnis entwickelt, und die ältere Frau erzählte vieles aus der Kindheit und Jugend der beiden Brüder, von deren Eltern und Großeltern und aus dem Leben in Bergmoosbach. Lilly hörte begeistert zu, stellte kluge Fragen und verbrachte viele Stunden in der Bibliothek des Hauses, in der die Papiere der Familie, alte Dokumente, Gemälde und Fotografien aufbewahrt wurden.

      »Du hast mir gar nicht erzählt, dass deine Mutter eine Künstlerin gewesen ist«, sagte sie eines Nachmittags, als sie zusammen in der Bibliothek saßen. Lilly blätterte behutsam durch eine Mappe, die ungerahmte Arbeiten von Sybille Berger enthielt.

      Robert saß an dem alten Schreibtisch und sortierte wichtige Unterlagen, die für den Termin beim Notar gebraucht wurden. Er schaute kaum auf, denn ihn beschäftigte immer noch die Tatsache, dass offensichtlich kein Testament vorhanden war. »Hm, was? Ja, sie konnte ganz gut malen und zeichnen«, murmelte Robert zerstreut.

      »Ganz gut trifft es wohl kaum, sie war sehr talentiert«, erwiderte Lilly. »Schau dir doch nur einmal diese Bilder an, die durch Kalligraphie entstanden sind, das sind Kunstwerke.«

      »Verstehst du etwas von Kalligraphie?«, fragte Robert.

      »Die Frau meines Patenonkels arbeitet siet Langem mit Kalligraphie und hat sich als Künstlerin einen Namen gemacht. Ich habe ihr Können immer bewundert und finde es wunderschön«, antwortete Lilly nachdrücklich.

      »Mag ja sein, dass es Kunst ist, aber ich habe sie nie verstanden«, erwiderte Robert achselzuckend. »Es ist doch nur eine komplizierte Art der Schönschrift. Warum sollte man sich eine derartige Mühe machen, wenn man etwas schreiben will? Die Buchstaben sind so verschnörkelt und verfremdet, dass sich die Texte kaum noch lesen lassen.«

      Lilly musste lachen. »Genau das ist die Kunst, alter Brummbär«, sagte sie und legte die Mappe in den Schrank zurück. Sie gab Robert einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging zur geöffneten Terrassentür. »Ich glaube, ich lasse dich jetzt besser allein, damit du beim Sichten der Papiere deine Ruhe hast.«

      Robert brummte etwas Zustimmendes und nahm sich den nächsten Ordner vor. Er war gereizt. Irgendwo musste doch ein Testament sein, schließlich stellte das Anwesen ›Silberwald‹ einen beträchtlichen Wert da.

      Bisher war Robert davon ausgegangen, dass Grund und Boden verkauft wurden und das Geld zu gleichen Teilen an die beiden Brüder ging. Er war davon ausgegangen, ›Silberwald‹ in heruntergekommenen Zustand vorzufinden. Robert wollte hier und da etwas verschönern lassen, um dann beim Verkauf den größeren Geldanteil einstreichen zu können.

      Er hatte weder damit gerechnet, das Anwesen so gut saniert vorzufinden, noch dass die Schreinerei seines Bruders ein so großer, angesehener Betrieb geworden war. Robert wollte ›Silberwald‹ für sich haben als Prestigeobjekt, mit dem er bei seinen Schick-Micki-Kunden Eindruck schinden konnte. Seinem Bruder würde er eine gewisse Abfindung zahlen, Gutshof und Tischlerei übernehmen und Daniel als Angestellten einsetzen. Um diesen Plan durchzusetzen, war es wichtig zu wissen, was sein Vater im Testament bestimmt hatte. Er musste sich rechtzeitig eine gute Taktik überlegen und mit seinen eigenen Anwälten besprechen, um die eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

      Was sein Bruder davon hielt, interessierte Robert nicht. In seinen Augen war Daniel selbst schuld, wenn er jetzt von den Absichten seines Bruders überrascht wurde. Gleich am ersten Abend hatte Robert über die Nachlassregelung sprechen wollen, aber Daniel hatte das abgelehnt. Er hatte gesagt, dass es vorschnell und gefühllos sei, sofort über das Erbe zu sprechen. Robert solle erst in Ruhe in seiner Heimat ankommen, den Friedhof besuchen und trauern, ehe die geschäftlichen Dinge geregelt wurden.

      »Du bist genauso unerträglich wie immer«, hatte Robert erwidert und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen.

      Heute würden sie sich mit dem Familienanwalt Korbinian Wamsler treffen und über den Nachlass sprechen. Robert würde schon dafür sorgen, dass alles nach seinen eigenen Vorstellungen lief.

      *

      Daniel kam aus der Werkstatt zurück, wo er an der passenden Eingangstür für einen Kunden gearbeitet hatte, der seinem Haus das alte Aussehen wiedergeben wollte. Er war mit dem Rad gefahren und musste zu seinem Ärger bemerken, dass ihn die Strecke bergauf nach ›Silberwald‹ deutlich anstrengte. Es konnte doch nicht sein, dass ihm nach einem halben Arbeitstag die Kraft für den ansteigenden Weg fehlte? Roberts spöttische Worte über seine Gewichtzunahme klangen in seinen Ohren wider, und er trat verbissen in die Pedale. Erschöpft, verschwitzt und mit rotem Gesicht fuhr er langsam über die Einfahrt hinüber in den Wirtschaftshof, wo ihn seine beiden Hunde begeistert begrüßten. Daniel spritzte sich unter der alten Pumpe frisches Wasser ins Gesicht und ließ sich für ein paar Minuten auf eine Bank fallen, die im Schatten einer Linde stand. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Im Duft der blühenden Linde und dem eifrigen Bienengesumm zwischen den Blüten konnte er sich entspannen. Als er leichte Schritte auf dem Kies hörte, schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht hin.

      »Entschuldige, ich wollte dich nicht stören«, sagte Lilly. Sie wirkte leicht verlegen, denn sie hatte den Mann offensichtlich beim Ausruhen überrascht.

      »Du störst überhaupt nicht«, antwortete Daniel rasch. »Ich brauchte nur einen Augenblick Pause zwischen Werkstatt und dem Termin mit unserem Anwalt. Bitte, möchtest du dich nicht zu mir setzen?«

      Lillys Lächeln war warm und freundlich. »Gern«, erwiderte sie. »Ich finde den Lindenduft herrlich, und das Summen der Bienen ist so beruhigend. Ich kann mir kaum ein schöneres Sommergeräusch vorstellen.«

      Daniel schaute sie mit klopfendem Herzen an. Lilly trug gelbe Shorts und ein fließendes, limonengrünes Top, das wunderbar zu ihrer sanft gebräunten Haut passte. Ihre Haare hatte sie locker aufgesteckt, und sie war barfuß mit kirschrot lackierten Nägeln. Lilly sah aus wie der blühende, farbenfrohe Sommer selbst und sie duftete auch so, nach Blumen, warmen Gras und sonnenwarmer Haut.

      Daniel konnte nicht anders, er musste ihr einfach zulächeln. »Du schaust aus, als hättest du einen schönen Urlaubstag gehabt«, sagte er freundlich.

      »O ja«, antwortete Lilly mit leuchtenden Augen. »Ich bin die ganze Zeit durch die Wiesen und Felder gestreift, habe einen Abstecher in eure Bibliothek gemacht und bin dann im Rosengarten gewesen. Rautende hat mir davon erzählt, wie deine Mutter ihn angelegt und gepflegt hat. Er ist entzückend mit seinen niedrigen Buchsbaumhecken und den vielen verschiedenen Rosensorten. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schön es hier ist! Ich kann gut verstehen, dass du ›Silberwald‹ sehr liebst.«

      »Tue ich das?«, fragte Daniel.

      »Natürlich.« Jetzt funkelten Lillys grüne Augen vor Vergnügen. »Du verrätst es, wenn du dich hier bewegst oder wenn du über ›Silberwald‹ sprichst. Dein Herz schlägt hier, gell?«

      »Das tut es«, antwortete Daniel bedächtig. »Aber ich musste erst fortgehen, um das zu erkennen.«

      »Wo bist du denn gewesen und was hast du getan, als du nicht in Bergmoosbach warst?«, erkundigte sich Lilly mit ehrlichem Interesse.

      Daniel schaute sie von der Seite an. Offenbar hatte Robert gar nichts von ihm und seinem Zuhause erzählt. »Nach dem Abitur bin ich für ein Jahr bei guten Freunden in Kanada gewesen. Als ich zurückkam, wurde

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