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Sie sie doch“, versetzte Dennert noch einmal hämisch.

      Der General beendete die Kontroverse. „Ich habe eine Frage an Sie beide, meine Herren“, sagte er. „Wie weit sind Sie mit Jablonski?“

      „Jablonski?“ entgegnete Dennert, der im ersten Moment nicht begriff, daß der Chef eine Schlappe durch eine Bombe wegsprengen wollte.

      „Ich bin so gut wie fertig mit den Ermittlungen“, antwortete Ballauf, dem seine Neider nachsagten, er stelle immer fest, was der Chef hören wolle.

      „Was heißt so gut wie?“

      „Soweit die Vorgänge in mein Ressort fallen, hätte ich keine Bedenken zuzuschlagen“, warf sich Ballauf in die Brust; Serge Jablonski, der KGB-Resident in Hamburg, war schon vor mehreren Wochen erkannt, enttarnt und seitdem rund um die Uhr beschattet worden. Die Berichte, die täglich über ihn in Pullach eingingen, füllten ein dickes Dossier.

      „Die Ermittlungen sind praktisch abgeschlossen“, setzte Ballauf behende hinzu.

      „Und was heißt praktisch?“

      „Ich hätte – wie gesagt – keine Bedenken, Jablonski zu verhaften.“

      „Und was meinen Sie dazu, Heinrich?“ fragte der General.

      „Blendende Idee“, erwiderte der Sicherheitsbeauftragte. „Das ist genau die richtige Masche, diesen Schreihälsen und drei weiteren Mitarbeitern da drüben das Maul zu stopfen.“

      Der General holte sich noch bei Karsunke und Kleemann Zustimmung, dann beorderte er Dennert und Ballauf nach Hamburg, wo sie morgen früh, in Zusammenarbeit mit Kriminalpolizei und Verfassungsschutz, schlagartig die Residentur des sowjetischen Geheimdienstes ausheben sollten.

      „Es könnte nicht schaden, wenn Sie auch einige unserer Pressefreunde verständigen würden“, hatte der General bei der Verabschiedung noch festgestellt.

      Als ich – fünf Minuten nach der ersten Fahndungsdurchsage nach dem Mann, der ich heute noch gewesen war – die HO-Raststätte verlassen wollte, war ich direkt der Vopo-Streife in die Arme gelaufen. Es waren zwei Uniformierte. Sie standen links und rechts vom Eingang, groß der eine, untersetzt der andere. Sie hatten mich längst bemerkt und sahen mir entgegen wie dem linken Schächer am Kreuz.

      Umkehren war sinnlos, und so schob ich mich betont langsam und lässig auf die Vopos zu und memorierte: Du bist Martin Lange aus der Friedrichstraße in Berlin-Ost, seit drei Jahren Witwer, seitdem deine Frau Irene im Wochenbett gestorben ist. Du arbeitest als Angestellter in Adlerhorst. Du hast noch acht Tage Urlaub, du warst beim Angeln an der Müritz, und du hast alte Freunde in Magdeburg besucht, obwohl du ein richtiger Eigenbrötler und Alleingänger bist. Martin Lange, evangelisch, fast 82 Kilo schwer, nicht ohne Grund, denn du bist gewöhnt, alles in dich hineinzufressen, den Kummer im Büro genauso wie den Erbseneintopf.

      Ich war noch einen Meter von ihnen entfernt.

      Sie wichen nicht beiseite.

      Ich griff in die Tasche, nach meinem Ausweis, aber sie trafen keine Anstalten, meine Papiere zu kontrollieren oder mich zu filzen.

      Ich ging langsam weiter, schritt durch die beiden hindurch.

      Sie sahen mir mit diesem unbeschreiblichen Blick nach, sagten kein Wort und rührten keine Hand, als lohne es sich nicht für die Diener eines atheistischen Staates, einen biblischen Sünder zu stellen.

      Ich tadelte mich selbst ob der Erleichterung, die ich verspürte, und zwang mich, meine Schritte nicht zu beschleunigen. Ich stellte aus den Augenwinkeln fest, daß sie mir nicht folgten, sondern den nächsten Verdächtigen in Augenschein nahmen mit Mienen, die man wohl am besten mit „wachem, proletarischem Mißtrauen“ übersetzt.

      Ich zündete mir eine Zigarette an, keine „Stuyvesant“ mehr – die hatte ich weggeworfen –, aber doch eine westliche. Im großen Halbkreis ging ich um meinen Wagen herum, versuchte, jede Einzelheit zu erfassen. Es waren zu viele Menschen am Parkplatz, ich konnte nicht sicher sein, daß der „Trabant“ nicht kontrolliert wurde. Dann sah ich auf das Leipziger Nummernschild und wußte, daß ich meine Flucht zu Fuß fortsetzen mußte. Wenn auch meine Personenbeschreibung sehr allgemein gehalten war und vermutlich auf ein paar hunderttausend DDR-Bürger zutraf – die Insassen von Autos, die aus der Messestadt kamen, würde man sich heute besonders genau ansehen.

      Vielen Dank, Martin Lange, dachte ich.

      Natürlich gab es ihn. Er hatte sich auch Urlaub genommen und war zum Angeln gefahren. Nur in Magdeburg, da war er nicht aufgetaucht. Dafür aber hatte er sich vor ein paar Tagen im Westberliner Auffanglager Marienfelde registrieren lassen. Einem unserer Leute war-sofort bei der Vernehmung der Gedanke gekommen, daß seine Identität für uns recht brauchbar werden könnte, und er hatte den DDR-Ausweis unauffällig einbehalten und dem Mann zu seiner großen Freude eine vorläufige westliche Kennkarte ausgestellt.

      Der Boden brannte mir unter den Füßen, aber ich mußte nach der Devise handeln: Eile mit Weile, und das bedeutete: kurze Strecken. Ständiger Wechsel der Verkehrsmittel. Umwege, um das Ziel zu verschleiern. Gelegentlicher Krebsgang.

      Die ersten fünf Kilometer ging ich zu Fuß.

      Dann stieg ich in die Eisenbahn und rollte drei Stationen weit nach Westen, statt nach Nordost. Ich starrte zum Fenster hinaus und zählte die Bäume, die der Wind rüttelte. Dabei purzelte mir der Gedanke vor die Füße, daß Metzler seinem amourösen Abenteuer mit der Rotgrünen vielleicht einen Tag länger Leben verdankte.

      Ab einem bestimmten Tempo wird Geschwindigkeit zu Hexerei. Ich traute den Stasi-Leuten vieles zu, jedoch nichts Übersinnliches. Sie mußten die beiden Co-Agenten schon früher verhaftet und zum Reden gebracht haben. Das erklärte auch, warum mich der Joker heute morgen über Kurzwelle zurückpfeifen wollte.

      Am Bahnhof einer Kleinstadt, deren Namen ich vergessen habe, stieg ich aus. Gegenüber war ein Gemüsestand. Es gab endlich Frischobst.

      „Um was stehen die denn Schlange?“ fragte ich.

      „Mensch, das ist doch keine Schlange“, erwiderte der Fahrer eines Viehtransportes so laut, daß es auch die anderen hören mußten. „Das ist eine sozialistische Wartebrigade.“

      Sie lachten, sie lachten gerne. Und sie schimpften gerne. Aber sie waren doch auf der Hut, nach beiden Seiten. Sie wollten nicht an den Unrechten kommen, aber auch nicht durch laute Sprüche in den Verdacht geraten, demnächst schwarz über die grüne Grenze den roten Machtbereich zu verlassen.

      „Wo fährst du denn hin, Kumpel?“ fragte ich den Witzbold. „Geht’s dich was an?“ erwiderte er. „Zur LPG nach Ludwigsfelde“, lenkte er dann ein.

      „Mensch, ich muß nach Potsdam“, entgegnete ich. „Kannst du mich ein Stück mitnehmen, Sportsfreund?“

      „Können schon“, versetzte er anzüglich. „Aber umsonst ist der Tod, und der kostet das Leben.“

      Wir wurden rasch handelseinig, und ich stieg zu. Der Fahrer hatte lebende Schweine geladen. Sie grunzten laut und stanken abscheulich. Ich leistete als Fuhrlohn fünf Ostmark Anzahlung und versprach ihm zusätzlich drei Ami-Zigaretten. Ich hätte spendabler sein können, aber dadurch wäre ich nur aufgefallen.

      Wir fuhren los, und nach der zweiten Zigarette wurden wir richtige Freunde. „Bin heute schon sechsmal kontrolliert worden“, sagte der Fahrer. „Scheißpolizei.“

      „Die suchen einen Spion“, erwiderte ich.

      „Die suchen immer einen“, versetzte der Mann am Steuer. „Schließlich ist ja auch alles besser als arbeiten.“ Er lachte. „Dir geht’s gut, wa? Haste Verwandte im Westen?“

      „’ne verheiratete Schwester in Hamburg“, behauptete ich.

      „Verwandte im Westen hab’ ick ooch“, versetzte er. „Aber die sind stinkgeizig. Die kennen uns ja nich mehr, so größenwahnsinnig sin’ se jeworden.“

      „Da ist was dran“, räumte ich ein.

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