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Der Krieg der nie zu Ende ging. Will Berthold
Читать онлайн.Название Der Krieg der nie zu Ende ging
Год выпуска 0
isbn 9788711727058
Автор произведения Will Berthold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auch „die Zone“ hatte längst ihr Wirtschaftswunder und war dabei, die zehntgrößte Industriemacht der Welt zu werden. Sie hatte es schwerer gehabt als der Westen, weil von den Sowjets alles demontiert worden war, was sich bewegen ließ. Die erste Produktion in den volkseigenen Betrieben (VEB) war entsprechend gewesen. Damals war es vorgekommen, daß die Kühlschränke heizten und die Elektroöfen froren. Aber sechzehn Jahre nach Kriegsschluß hatte sich der Lebensstandard seit der Stunde Null erheblich gebessert. Ich kannte die Verhältnisse bestens, wenn auch bislang nur vom Schreibtisch her. Ich hatte die Produktionszahlen im Kopf, die Schlagkraft der Nationalen Streitkräfte, das Parteichinesisch war mir geläufig, mit seinen unerträglichen Abkürzungen, und ich wußte auch, daß der Staatssicherheitsdienst – im Volksmund Stasi genannt – nach offizieller Angabe über 17000 feste Mitarbeiter und über 100000 IM’s (inoffizielle Mitarbeiter) verfügt, wie man die ehrenamtlichen, wenn auch nicht ehrenwerten Spitzel nennt.
Sicher waren die Menschen in der DDR meistens schlechter angezogen als ihre Landsleute im Westen und wirkten eher satt als übersättigt, aber wenn sie nicht über das Wetter wetterten oder über ihre Regierung, dann kamen die gleichen Sorgen, Nöte, Freuden und Hoffnungen zum Vorschein wie überall auf der Welt, auch wenn politisch Welten zwischen Ost und West liegen. Beim Betreten der HO-Raststätte hörte ich wieder den Witz über den Unterschied – „Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus, im Sozialismus ist es genau umgekehrt“, sagte der Fernfahrer lachend zu seinem Kumpel.
Der schmucklose Raum war voll besetzt. Schmutzige Tischdekken, fettes, aber geschmackloses Essen, das die Propaganda-Bekundungen zu bestätigen schien, die DDR-Bürger verzehrten mehr Butter als die Bundesbürger. Das mochte stimmen – aber deswegen war im Osten noch lange nicht alles in Butter.
Ich ließ mein Auge eine Weile durch den Raum schweifen, endlich fand ich einen Platz.
Dann wartete ich auf den Kellner. Ich wartete lange. DDR-Kellner sind notorisch mürrisch, denn die Abschaffung des Trinkgeldes gehörte zu den sozialistischen Errungenschaften und war doch nur eine Ausrede für Geizkrägen, denn Trinkgelder wurden auch weiterhin gegeben und genommen, selbst von Kellnern mit dem sed-Partei-Abzeichen.
Der Ober pflügte sich endlich heran. Er hatte seinen Daumen tief in meiner Terrine und trug eine speckige Jacke, alles in allem ein nicht gerade appetitanregender Anblick.
„Junge, Junge“, sagte einer der Blaukittel, die am Tisch saßen, „deine Montur mußt du auch mal wieder teeren lassen, damit das Weiße nicht rausschaut.“ Er tippte sich an die Stirne: „Weltniveau“, spottete er.
„Beschweren Sie sich beim Objektleiter, wenn Ihnen etwas nicht paßt“, erwiderte der Kellner pampig.
„Und nehmen Sie den Daumen aus meiner Brühe“, schaltete ich mich ein.
„Mensch, Kumpel“, wandte sich der Mann am Tisch lachend an mich, „sei doch froh, haste wenigstens ’nen Brocken Fleisch drin.“
Sie lachten dröhnend. Dann wurde das Radio laut aufgedreht. Radio DDR sandte Nachrichten. Nach den ersten Worten wußte ich, daß der fade Erbseneintopf, der vor mir dampfte, doch noch gewürzt würde.
„Berlin“, sagte der Sprecher mit gehobener Stimme. „Sicherheitskräften des Ministeriums für Staatssicherheit ist es heute im schlagartigen Zugriff wiederum gelungen, einen imperialistischen Agentenring zu zerschlagen. Drei Spione der Gehlen-Organisation wurden verhaftet; einer von ihnen ist in Leipzig bei einem Schußwechsel bei der Festnahme ums Leben gekommen.“ Nach einer Kunstpause setzte der Sprecher mit schmetternder Stimme hinzu: „Zur Stunde läuft auf dem gesamten Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik eine Sonderfahndung nach den Hintermännern der faschistischen Provokateure an, an der Tausende von Beamten der Volkspolizei teilnehmen. Gesucht wird ein weiterer Gehlen-Spion, der sich für den DDR Bürger Fritz Stenglein ausgibt. Dieser Mann ist etwa fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter achtzig groß. Er hat ein glattes Gesicht, gescheitelte Haare und blaue Augen. Er spricht Schriftdeutsch mit Berliner Akzent, trägt eine braune Lederjacke zur grünen Hose. Hinweise nimmt jede Dienststelle der Volkspolizei oder direkt das Ministerium für Staatssicherheit entgegen.“
Die Schrecksekunde hatte ich mir wegtrainiert, die Jacke gewechselt, das Aussehen verändert. Der braune Lumberjack ruhte mit Stengleins Ausweis auf dem Grunde eines idyllischen Waldsees; ich trug jetzt einen grauen Pullover. Ich bin nur einen Meter achtundsiebzig, und meine Augen sind grau und nicht blau – aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Weg nach Berlin noch weit war und daß ich mich quer durch Vopos- und SSD-Streifen kämpfen mußte. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, alle im Saal würden mich anstarren. Ich befürchtete, daß sich auf meiner Stirn Schweißtropfen bilden würden – es war natürlich purer Nonsens.
„Diese Faschistenschweine“, sagte der Arbeiter, der mir gegenüber saß.
„Aber jetzt sind sie arme Hunde“, warf sein Kumpel mit einem Achselzucken ein.
„Geschieht ihnen ganz recht“, erwiderte der Blaukittel. „Die haben bei uns nichts zu suchen. “
„Und was ist mit den Leuten, die wir nach drüben schicken?“ fragte sein Widerpart.
„Das sind keine Agenten“, beendete der Arbeiter den Dialog. „Das sind verdiente sozialistische Kundschafter.“
Sie lachten beide schallend, und andere schlossen sich an. Es war die übliche DDR-Konversation, die offen ließ, ob die Teilnehmer sie ernst meinten oder ihren Staat veralberten. Ich nutzte das Gelächter, um mich nach draußen zu schieben.
Ich fing den Kellner ab, bezahlte im Stehen, quälte mich durch das Gedränge und lief prompt am Ausgang der Vopo-Streife in die Arme.
Der Sommertag wirkte wie ein fauler Wechsel, der jeden Moment zu platzen drohte. Zur Zeit lag Deutschland von der Nordseeküste bis zur Donau unter dichtem Regen, aber von den Bergen her war in die oberbayerische Landschaft eine Art Föhn eingefallen. Die Wälder schimmerten blau, der Himmel trug orangefarbene Flecke, und die Luft wirkte verbraucht wie Spülwasser. Die am späten Vormittag im Chefbüro in Pullachs „Weißem Haus“ zusammengetrommelten Teilnehmer einer improvisierten Besprechung wirkten abgeschlafft.
Den Spitzenleuten des bundesdeutschen Geheimdienstes war natürlich bekannt, daß – meteorologisch gesehen – im Hochsommer keine Föhnlage entsteht, aber als Experten der unsichtbaren Front wußten sie nur zu gut, daß auf dieser Erde vieles existiert, das es gar nicht geben darf, und so litten sie sichtbar, und nicht nur unter der Wetterunbill.
Der Hausherr des 60000 Quadratmeter großen und durch eine eineinhalb Kilometer lange Mauer abgeschirmten geheimen Hauptquartiers – im Isartal, zehn Kilometer südlich von München – saß an seinem Schreibtisch, ein schlanker, mittelgroßer Mann mit einem schmalen Kopf, kalten Augen, mit hohem Stirnansatz und schütteren Haaren. Auf den ersten Blick fielen seine übergroßen Ohren auf, überdimensionierten Horchgeräten gleich, wie sie einem Untergrundchef anstehen. Pullachs Chef nannte sich Dr. Schneider, aber jeder im Camp wußte, daß er in Wirklichkeit General Gehlen war, der frühere Chef der geheimen Nachrichtenabteilung „Fremde-Heere-Ost“. Hier, im engsten Mitarbeiterkreis, kannte jeder die wahre Identität des anderen, aber Pullachs legendärer und autoritärer Hausherr bestand darauf, daß sich seine Crew auch im internen Verkehr mit den falschen Namen anredete, und so kam es seinen Männern mitunter vor, als trügen sie ihre Pappnasen auch außerhalb des Karnevals.
Die Vertrauten des Chefs, von den Fernerstehenden mißgünstig „Pullachs Mafia“ genannt, waren fast vollständig zur Stelle: Dr. Grosse, der scharfsinnige Analytiker von der „Auswertung“, der kleine Karsunke, der schlaksige Söldner, der schieflippige, krummnasige Schluckesaft von der „Zentralen Abteilung“, Kleemann, der Schweigsame und der aggressiv intrigante Dennert mit dem Verschwörer-Gehabe.
Nur Ballauf fehlte, hatte die Aufforderung, bei Gehlen zu erscheinen, mit den rüden Worten: „Konferenzen sind