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schwieg. Sie waren schon einmal weiter gewesen, aber offenbar hatte sich die junge Frau entschieden, zu ihrer vorherigen Haltung zurückzukehren und ihre Schwangerschaft zu leugnen.

      Sie griff in ihre Tasche, holte ein Ultraschallbild heraus und legte es auf den Nachttisch der jungen Frau. »Das ist ein Bild von Ihrer kleinen Tochter«, sagte sie sanft. »Ich lasse es hier, falls Sie es sich später ansehen möchten. Es ist ein Bild, auf dem man ziemlich viel erkennen kann. Nicht alle Ultraschallbilder sind so klar.«

      Nach diesen Worten ging sie leise hinaus. Als sie später noch einmal einen Blick in Eva Maischingers Zimmer warf, hielt die Patientin das Ultraschallbild in der Hand und betrachtete es mit unbewegtem Gesicht.

      Marie seufzte. Warum machten sich nur manche Menschen das Leben so schwer?

      *

      Flora Müthens erster Zwilling, ein kleiner Junge, war bereits auf der Welt, als die Komplikationen einsetzten: Der zweite Zwilling, ein Mädchen, ließ sich Zeit, und irgendwann konnte Leon keine Herztöne mehr hören. Er entschied sich für einen Kaiserschnitt, und das rettete dem Mädchen das Leben, denn die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gelegt und drohte es zu ersticken. Es vergingen bange Sekunden, bis es den ersten zaghaften Schrei ausstieß, dann jedoch kannte das Glück der jungen Eltern keine Grenzen.

      Leon war müde, als er wenig später mit Eckart einen Kaffee auf dem Stationsflur trank. »Das war knapp«, sagte er.

      »Bei mir auch«, erwiderte Eckart. »Eine blutige Notoperation.«

      »Der Motorradunfall?«

      »Ja, Unfall mit Fahrerflucht, es gibt Zeugen. Hoffentlich erwischen sie den Flüchtigen.« Eckart leerte seine Tasse. »Fahr nach Hause, Leon, du hast morgen Vormittag eine OP.«

      »Ich weiß, aber im Augenblick bin ich hellwach. Außerdem muss ich noch einmal nach Frau Müthen und ihrem Mann sehen. Und nach ihren Zwillingen natürlich.«

      Robert Semmler erschien im Laufschritt und unterbrach ihr Gespräch. »Zwei Verletzte, Schlägerei und Messerstecherei – ob wir sie aufnehmen können? Die anderen Notfallambulanzen sind überlastet …«

      »Ja, natürlich nehmen wir sie auf«, sagten Leon und Eckart wie aus einem Mund.

      Fünf Minuten später wurden zwei junge Männer in die Notaufnahme gebracht, von denen einer zwar eine gebrochene Nase und Quetschungen im Genitalbereich hatte, sonst aber keine größeren Verletzungen aufwies, während der andere eine böse Stichwunde in Herznähe abbekommen hatte. Das Messer hatte das Herz nur um wenige Zentimeter verfehlt. Allerdings waren etliche Blutgefäße verletzt worden, so dass sich Leon und Eckart kurz darauf in einem Operationssaal wiederfanden, während sich Michael Hillenberg um den anderen jungen Mann kümmerte.

      »Jetzt bist du wohl doch froh, dass ich noch nicht nach Hause gefahren bin, oder?«, fragte Leon eine Stunde später.

      Eckart nickte. »Ich muss gestehen, dass ich Frau Müthens Zwillingen aufrichtig dankbar bin, dass sie dich hergeholt haben«, gestand er. »Für Herrn Hillenberg und mich wäre das alles doch ein bisschen viel geworden.« Ein Blick auf den Monitor zeigte ihm, dass der junge Mann stabil war. »In den Aufwachraum mit ihm«, sagte er.

      Sie tranken erneut Kaffee, als zwei Polizeibeamte erschienen und sich nach den beiden Männern erkundigten, die in eine Schlägerei und Messerstecherei verwickelt gewesen waren.

      »Ein Mann wurde mit einem Messer verletzt, das wir aber nicht gefunden haben«, erklärte Leon. »Der andere hat eine gebrochene Nase und Prellungen im Genitalbereich – wohl herrührend von einem kräftigen Tritt. Den Mann mit der Stichverletzung haben wir gerade operiert, er ist frühestens morgen ansprechbar.«

      »Und der andere?«

      »Dem haben wir ein Schmerzmittel gegeben, damit er zur Ruhe kommt. Aber morgen dürften Sie ihm ein paar Fragen stellen können.«

      »Gibt es Zeugen für den Vorfall?«, erkundigte sich Eckart.

      »Eben nicht«, antwortete einer der Beamten. »Wir wissen nicht einmal, wer den Notruf betätigt hat. Die Sanitäter haben ausgesagt, dass ein junger Mann vor Ort war und gesagt hat, er sei zufällig vorbeigekommen und habe angerufen, als er gesehen habe, dass beide Männer verletzt waren. Dieser junge Mann ist aber wie vom Erdboden verschluckt. In der Kneipe haben ein paar Leute zwar mitbekommen, dass die beiden Männer gestritten haben, aber keiner will sich besonders dafür interessiert haben.«

      »Merkwürdige Geschichte«, sagte Eckart.

      »Ja, das finden wir auch. Jedenfalls wissen wir bis jetzt nicht sicher, ob es vielleicht dieser dritte Mann war, der dem einen Opfer die Stichverletzung beigebracht hat – oder ob es der andere Verletzte war. Deshalb müssten wir möglichst bald mit den beiden sprechen.«

      »Wie gesagt, morgen«, erklärte Leon. »Zurzeit sind beide nicht vernehmungsfähig.«

      »Wie gefährlich war die Stichverletzung?«

      »Sie hätte tödlich enden können, wenn das Messer das Herz getroffen hätte. Das wurde aber knapp verfehlt.«

      »Wissen Sie die Namen der beiden?«

      »Bislang nicht, aber … Schwester Marie?«

      Es erwies sich, dass Marie tatsächlich wusste, wie die beiden Verletzten hießen: Marco Friedrich und Tom Fröbel, zwanzig und einundzwanzig Jahre alt. Verwandte der beiden hatte sie bislang noch nicht ausfindig machen können.

      Die Polizeibeamten bedankten sich für die Auskünfte und verließen die Klinik.

      Leon sah noch einmal nach Flora Müthen, die erschöpft ,aber glücklich schlief – ebenso wie ihr Mann, der neben ihrem Bett eingeschlafen war. Den Zwillingen ging es den Umständen entsprechend gut – dem kleinen Jungen etwas besser als dem Mädchen, aber die Kleine erholte sich schnell von ihrem stressigen Weg ans Licht der Welt.

      Kurz darauf verabschiedete sich Leon und fuhr nach Hause. Als er sich zu Antonia ins Bett legte, waren die bohrenden Fragen mit einem Schlag wieder da: Wieso erzählte sie ihm nichts von ihren Treffen mit Ingo Ewert? Und warum traf sie sich überhaupt mit ihm?

      Aber in diesem Fall trug seine Müdigkeit den Sieg davon: Schon bald verwirrten sich seine Gedanken, und er schlief ein.

      *

      »Der Herr Fröbel ist wach geworden und will noch etwas gegen die Schmerzen haben«, sagte Robert Semmler. »Dabei hat er schon eine ganz schöne Dosis bekommen.«

      Eckart Sternberg nickte. »Ich sehe selbst mal nach ihm. Wie geht es dem anderen?«

      »Herr Friedrich hat noch keinen Mucks von sich gegeben.«

      »Ist wahrscheinlich auch besser so.« Eckart betrat den Raum, in dem Tom Fröbel lag. Der sah wüst aus mit seiner unförmig angeschwollenen Nase und dem sich langsam ausbreitenden Bluterguss rund um ein Auge.

      »Sie haben Schmerzen, Herr Fröbel?«

      »Starke«, antwortete der Patient. Er sprach undeutlich, was Eckart nicht wunderte. Auch im Kieferbereich waren Schwellungen zu sehen, auch dort würde sich in den nächsten Tagen die Haut verfärben.

      »Die Polizei war hier und wollte Sie befragen, das haben wir für heute Nacht abgelehnt. Die Beamten werden morgen wiederkommen.«

      »Polizei?«

      »Ja. Ihr Freund Marco Friedrich hatte eine Stichverletzung, die ihn mit etwas Pech hätte umbringen können. Aber das Messer hat sein Herz zum Glück verfehlt. War das Ihr Messer?«

      Eckart ließ den jungen Mann nicht aus den Augen. Dessen Blick flackerte, als er hervorstieß: »Nein!«

      Er log, ganz offensichtlich, aber sich damit auseinanderzusetzen war Sache der Polizei. »Nun, das können Sie den Beamten ja dann morgen sagen«, erwiderte Eckart betont gleichmütig. Er wollte Tom Fröbel nicht spüren lassen, dass er ihm nicht glaubte. Für ihn war er ein Patient, dem er helfen musste, und das tat er. Alles andere fiel nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

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