ТОП просматриваемых книг сайта:
Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)
Год выпуска 0
isbn 9788027203697
Автор произведения Joachim Ringelnatz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich hatte Akten zu ordnen.
1 Privatrechtliche Materien. Fideikommißakten. Wirtschaftliche Belege usw.
2 Öffentliche rechtliche Materien. Urbarien. Rezesse. Polizeiakten. Politische Materien. Wegesachen. Wassersachen. Mühlensachen. Kirchensachen. Eisenbahnen usw.
3 Akten zur Geschichte der Familie und des Besitzes. Akten, die den Feldmarschall betrafen, usw. und mit Unterabteilungen. Alte Schöppenbücher, Journale und Rechnungsbücher. Sowie Jahrhunderte alte Akten von Maltesermönchen geschrieben. Entzückend sauber und liebevoll verschnörkelt geschrieben. Auf ein herrliches Papier, das zum Schreiben lockte. Ich riß mir von den unbeschriebenen Seiten einige heraus.
Astern blühten. Das Weinlaub glühte grellrot im Park. Der Wald wurde durchsichtiger. Ich sandte an Seele und an die Eltern Fasanen. Neuer Besuch. Die Gräfin Carola mit einer hübschen Lehrerin. Der Graf hatte seinen ersten Autounfall erlebt, was der Gräfin verschwiegen werden sollte. Er war ein paar Tage lang besonders freundlicher Stimmung.
Eichhörnchen suchte mich auf alle Weise zu erfreuen. So schrieb sie an berühmte Leute und erbat sich Autogramme, die sie mir dann schenkte, z.B. eine reizvolle Federzeichnung von Max Liebermann. Timmi hatte eine klare, feste Handschrift und einen liebenswürdigen Stil. Was sie sich vornahm, führte sie energisch und mit peinlichster Gewissenhaftigkeit durch.
Zänkereien und Stänkereien zur Befriedigung einer schürenden alten Dame, die wir vom Unterhaus »Entenschnabel« nannten. Rommel kümmerte sich zu wenig um die Kinder. Fräulein Timm nähme an dem Frühstück der Kinder nicht teil. Ich triebe gefährliche Albereien mit Daja auf meinem Zimmer und so fort.
Ich fing an, mich bei Tisch in eisiges Schweigen zu hüllen, soweit ich nicht gefragt wurde. Ich mochte auf die übergelehrten, sich selbst verherrlichenden Reden nicht eingehen. Ich konnte Fräulein Molls verworrene Philosophiererei nicht mehr hören. Die dreizehnjährige Komteß Püzze schien mir so unkindlich. Sie hatte auf einer Alpenreise offenbar keinen anderen Genuß gefunden, als sich – allerdings mit Witz und guter Beobachtungsgabe – über fremde Menschen und fremde Einrichtungen zu mokieren. Es bedeutete für mich auch keine Auszeichnung mehr, wenn Graf Ernst, der Bruder des Grafen, oder sonstwer mir gelegentlich zuprostete.
Mein Liebling unter den Kindern blieb Daja. Sie gab sich am einfachsten und ungezierter als die andern. Ich brachte ihr ein Wort bei, das gar keinen Sinn hatte, das ich aber in einem Zuge ganz schnell hersagte. Es war von mir sinnlos erfunden und hieß: »Orotscheswenskiforrestowskiofurchtbariwucharisumaniusambaripipileikakamankabudi babalutschistaneilemamittararakandara.«
Ich hatte Tage dazu gebraucht, um es auswendig zu lernen. Das etwa achtjährige Mädchen konnte es nach wenigen Stunden ohne zu stocken hersagen.
Es gab verwöhnte Angestellte, und gab arbeitsüberlastete Angestellte im Schloß. Der Diener Robert lief treppauf, treppab und sah sehr blaß aus. Ein anderer Diener hatte gekündigt und wurde nun plötzlich frech. Es gab manchenorts Murren über unzureichende Kost. Timmi sprach sich nach langem Entschluß mit der Grafin aus. Wie die Gräfin ihre Kinder einer Person zur Erziehung geben könnte, die von den gräflichen Eltern als minderwertig behandelt würde.
Die neunzackige Krone und das Hauswappen standen auch auf der täglichen Speisekarte. Ein Menü sah beispielsweise so aus:
3. Oktober 1912
Artischockensuppe
Lachsforellen Sce. Colbert
Rehziemer mit Duchessekartoffeln
Krammetsvögel, Chaudfroid
Perlhühner, Salat, Kompott
Edelpilze
Pflaumenkuchen, Käsebiskuits
1893er Geisenheimer Altbaum
Champagner
1900er Chateau Latour
Dessert
Die gutmütige, kranke Gräfin E. war so ehrgeizig, daß sie weinte und schimpfte, weil sie im Park einen bestimmten Weg nicht wiederfand. – – Meine Kaffeemaschine explodierte zum drittenmal. – – Ich opferte mein Frühstück der stiefmütterlich behandelten Hündin Bella. – – Und das Gewächshaus war neu hergestellt, was für Eichhörnchen und mich eine Rolle spielte. Unsere nächtlichen Zusammenkünfte gestalteten sich immer aufregender. Oft hockten, lauerten wir stundenlang regungungslos zwischen Hangen und Bangen. Waren beinahe erwischt oder wußten nicht, ob wir erwischt wären. Es gab Situationen, wie sie Spione im Feindesland durchmachen. Unser Gehör war aufs feinste trainiert, wußte: Dies Geräusch kommt vom Schloß, dies vom Sofa, dies ist ein leiser, einmaliger Schlucker in der Weckuhr, das ist Holzwurm, dies sind die Schritte des Wächters und, o Gott, das ist »Entenschnabel«.
Graf Yorck von Wartenburg wollte seinem erlauchten Ahnherrn ein Denkmal setzen, und zwar an der Stelle, wo dieser die berühmte Konvention von Tauroggen geschlossen hatte. Er fuhr dazu nach Rußland und verhandelte mit dem Bauern, dem das Grundstück gehörte, und als dieser zu unverschämt forderte, mit dem Gouverneur. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Einmal war der Gouverneur auch in Klein-Oels zu Gast. Schließlich erhielt der Graf den Platz, den er brauchte. Das Denkmal war ein sehr schöner Stein, vom Maler Kalckreuth und Professor E.R. Weiß entworfen. Es wurde feierlich eingeweiht im Beisein hoher deutscher und russischer Persönlichkeiten. Wir vom Unterhaus waren nicht dabei. Aber ich erfuhr von Teilnehmern hinterher, daß der Graf ein auserlesenes Festmahl gegeben, zu dem die Speisen von Borchardt aus Berlin gesandt wurden. Dieses Essen sei aber später ganz in den Schatten gestellt worden durch das pompöse, üppige und glanzvolle Gegendiner des russischen Gouverneurs.
Die Gräfin besprach mit mir, was man dem Grafen zum Geburtstag schenken könnte. Schließlich bestellte ich die Goethebüste von Schadow aus dem Jahre 1816. Fräulein Moll übte kunstlos und ungeschickt ein Tanzspiel ein. Am Geburtstag brachte Exzellenz eine nette, nicht gerade natürliche Rede aus, deren Schluß die Jugend zum Wort aufforderte, worauf Brüder etwas stockend eine lateinische Rede ablas.
Ich las Dantes Göttliche Komödie in der Witteschen Ausgabe. Mich begeisterte das Porträt, der Kopf Dantes. Aber der Göttlichen Komödie war ich nicht gewachsen. Das packte mich nicht so wie etwa der Faust, von dem ich gerade eine seltene, einzeln erschienene Ausgabe für fünfundsiebzig Mark im Auftrag des Grafen erworben hatte.
Bei großen Gesellschaften spielte unser Unterhaus gar keine Rolle. Sonst im kleineren Kreis – wir mochten meist zehn bis fünfzehn Personen bei Tisch sein – ergaben sich versteckte Reibereien zwischen Unterhaus und Oberhaus. Selbstverständlich führte die Gräfin dem Platz nach das Präsidium. Sie war still und korrekt; wenn sie in die Unterhaltung eingriff, belesen und versöhnlich. Es kam aber vor, daß sie die Tafel unter verhaltenen Tränen verließ. Daneben saß der Graf und leitete das Gespräch auf irgendwelche hochwissenschaftlichen Themata. Das Unterhaus schwieg. Die Rede kam auf irgendwelche verstorbenen oder fernstehenden Personen, und das Wort Ignoranten fiel. Das Unterhaus schwieg. Im Oberhaus kam die Rede auf Titulationen usw. Der Graf sagte gelegentlich: »Seiner Hochgeboren« muß man ausschreiben. Man kann dergleichen Titulierungen überhaupt negieren, wenn man das aber nicht tut, muß man korrekt sein.
Vielleicht hatte er damit recht. Vielleicht hätten wir vom Unterhaus, oder wenigstens Eichhörnchen und ich vieles negieren müssen. Vielleicht hätten wir zu einem gewissen Zeitpunkt energisch, höflich unser Handwerkszeug hinlegen und gehen müssen. Aber dieser gewisse Zeitpunkt war nie nackt da, und wir wußten nicht, ob er schon überschritten war oder kommen sollte.
Die von mir so verehrten Kalckreuths waren wieder zu Besuch da. Den Kindern war ein Kanarienvogel entflogen und hatte sich in einen Baumwipfel vorm Haus geflüchtet. Nun standen die Mädchen und ein paar alte Damen ratlos um den Baum, und ich wollte gern der Retter der Situation werden. Ich erkletterte den Baum. Ehe ich aber noch nach dem Vogel