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Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)
Год выпуска 0
isbn 9788027203697
Автор произведения Joachim Ringelnatz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nachts ging ich noch immer zu Seidlers, wo ich meine Schulden bezahlen und etwas spendieren konnte, da ich ja jetzt mehr als ein Matrose verdiente. Mit Meta traf ich mich auch zuweilen in einem Lokal in der Steinstraße. Einmal schwuren wir einander, daß wir uns vor dem Hause dort nach zehn Jahren wieder treffen wollten.
Ich ging auch zum erstenmal in ein Kabarett, in der Wexpassage. Eine robuste Dame sang dort allabendlich: »I bin a armer Bettelbuah.« Dem Zauber dieser Dame unterlag ich eine Zeitlang.
Einmal wurde ich von Ristelhüber zu einer Gesellschaft in seine Privatwohnung geladen. Ich richtete meinen Anzug so gut wie möglich her und war sehr aufgeregt. Frau Ristelhüber verstand es ebenso wie ihr Mann, mich durch liebenswürdige Natürlichkeit zu gewinnen. Mein Chef hatte mich einem der Gäste so vorgestellt, daß er sagte: »Mein junger Freund und Lehrling ...« und: »Herr X., von Beruf Briefträger.« Es freute mich, daß man zu so hoher Gesellschaft auch einen einfachen Briefträger lud, und da dieser mein Tischnachbar wurde, gab ich mir Mühe, recht volkstümlich mit ihm zu reden. Bis ich sehr spät erfuhr, daß er in Wirklichkeit ein Oberpostdirektor oder ein noch höherer Beamter war. Bei diesem Diner aß ich auch zum erstenmal Kaviar, und zwar ahnungslos unbescheiden.
Betreffs meiner militärischen Angelegenheit hatte Vater sich an die Kieler Kommandantur gewandt. Denn ich wollte zur Marine, weil man als Einjähriger dort billiger diente als bei der Armee. Es kam der Bescheid, daß ich zuvor noch einen Monat Fahrzeit bei der Handelsmarine absolvieren müßte.
Mein Chef hatte Beziehungen zu der Oldenburg-Portugiesischen-Dampfschiffsreederei. So bekam ich nochmals eine Stellung als Matrose. Auf dem Dampfer »Villa Real«. Das behördliche Attest über meine ungenügende Sehkraft verbot mir eigentlich ein weiteres Fahren. Aber man umging diese Klippe, indem man mich als »überzähligen« Matrosen anmusterte. Als solcher hatte ich freilich keinen Anspruch auf Bezahlung.
Am 19. Oktober 1903 nahm ich von dem liebenswerten Herrn Ristelhüber Abschied und zog mit meinem Zeugsack an Bord. Unterwegs knöpfte ich meinen hohen Stehkragen ab.
Ich wurde vor den anderen Matrosen in einem bevorzugt. Man gab mir nämlich eine eigene Kammer, die auf dem Schiff als Hospital vorgesehen war. Der enge Raum ließ sich nicht heizen, so daß ich in der Nacht fror, weil ich nur eine Decke besaß. Aber ich war glücklich über mein Abgetrenntsein und machte es mir behaglich in dieser Kammer, wo ich unbeobachtet Tagebuch führte, vorsichtigerweise unter Anwendung von mancherlei Geheimzeichen.
Bald wurde ich gewahr, daß die anderen Matrosen gegen mich waren, obwohl ich eine Flasche Kümmel für sie mitgebracht hatte. Sie beneideten mich um die Solokabine und nahmen mich seemännisch nicht für voll, weil ich keine Heuer bezog und weil ich das Einjährige hatte. Als sie nach dem Auslaufen bei irgendwelchem Anlaß eine drohende Haltung gegen mich einnahmen, sagte ich zu ihnen: »Wer mir dumm kommt, dem komme ich auch dumm! Und wer mich anrührt, dem schmeiße ich das erstbeste Stück Eisen in die Fresse!«
Auch die beiden Steuerleute waren mir übelgesinnt und mißachteten mich, weil sie nicht kapierten, warum ich ohne Heuer fuhr. Im Kanal gab uns Sturmwetter zu schaffen. Als wir Dover passierten, neigte sich das Schiff so stark im Schaukeln, daß meine Hängelampe ein Loch in den Decksbalken sengte. Darauf nahmen mir die Steuerleute die Lampe weg. Ich mußte mich im Dunkeln ausziehen, rauchte im Dunkeln verärgert meine letzten Zigaretten, danach die Pfeife.
Wir liefen gegen den Wind nur fünf Meilen. Unsere Ladung bestand aus Zucker und Kartoffeln in Säcken. Außerdem führten wir an Deck Stückgut mit uns und eine schöne Ulmer Dogge, die wir gern mit dem Wasserschlauch erschreckten. Sie konnte sich bei dem Rollen des Schiffes nur schwer auf den Beinen halten.
Kap Finisterre kam in Sicht. Rudel von Schweinsfischen zogen vorbei. Der Sturm nahm zu. Wenn ich Tagebuch schrieb, mußte ich mich mit einer Hand am Waschtisch festklammern. Da kam aber die Tintenflasche ins Rollen. Es geschah, daß ich gleichzeitig einen Knall vernahm. Ich ließ Tinte und Buch sausen und stürzte an Deck. Im Heizraum war das Wasserstandsglas geplatzt.
Es stank in meiner Kammer. Ich fand nach langem Suchen einen vergessenen Käse in Stanniol. – Ich zeichnete. – Ich angelte. – Die Kameraden wurden freundlicher zu mir, als sie erkannten, daß ich meine Arbeit verstand. – Zwei Karls hatten wir an Bord. Karl der Schwede und Karl der Dämliche. Mit dem Ostfriesen Simon spielte ich Schafkopf. – Der donkeyman war ein sehr witziger Flachser. Sein und unser ständiges Opfer hieß Paul. Das war ein schwachsinniger, gutmütiger Trimmer. – Viele dort an Bord litten an Syphilis und anderen Krankheiten.
Der Sturm nahm zu. Ich hatte Tag und Nacht nasse Füße. Überall rauschte Wasser, in der Küche, unter den Kojen, in meiner Kammer. Die Dogge heulte. Es gab viel Arbeit, aber wir schrieben Überstunden an. Ich war besonders eifrig, weil ich annahm, daß man auch mir diese Überstunden bezahlen würde. Auf diese Weise blieb ich nun auch nicht ganz ohne Einnahme.
Vor Oporto ankerten wir.
Mit den anderen Seeleuten war ich inzwischen ganz ausgesöhnt. Ich unterhielt sie abends, indem ich mir Stecknadeln in die Arme stach, Messer warf und Glas und Kohle zerkaute. Ihre höchste Bewunderung gewann ich aber durch ein illustriertes Gedicht, das die Schlauchspritzenwut des Zweiten Steuermanns schilderte. Das Blatt wurde heimlich im Klosett der Achtergäste angenagelt.
Mein Verhältnis zu beiden Steuerleuten wurde immer feindseliger. Ich wollte mir's nicht mehr gefallen lassen, daß sie mich duzten und forderte sie auf, zu mir »Sie« zu sagen. Um diese Frage ging nun während der ganzen Reise ein Streit, der erbittert geführt wurde, aber viele komische Phasen durchmachte. Erst lehnten sie es ab, mich mit »Sie« anzureden, weil ich keine Heuer bezöge, deshalb kein richtiger Seemann wäre. Als ich ihnen das widerlegte, sagten sie: »Ja, wenn du das von Anfang an gesagt hättest, dann wäre das was anderes. Nun können wir aber nicht mehr ›Sie‹ sagen.« Darauf hörte ich nicht mehr auf das, was sie mir per Du befahlen. Wenn sie – bald der eine, bald der andere – mir morgens zuriefen: »Du machst die oder die Arbeit«, dann reagierte ich nicht, sondern blieb in meiner Kabine. Daraufhin riefen sie künftig: »Wir wollen die oder die Arbeit machen.« Dagegen ließ sich nichts sagen. Ich gehorchte. Bald aber fiel wieder ein Satz mit Du, und sofort legte ich mein Werkzeug nieder und zog mich in meine Kammer zurück. Sie beschwerten sich beim Kapitän. Der drohte mir, mich in Lissabon oder Hamburg einlochen zu lassen, wenn ich die Arbeit verweigerte. Da ich dem sonst sehr friedliebenden und wohlwollenden Menschen (er hieß Johann Löding) nichts weiter entgegnen wollte, ging ich wieder an die Arbeit, redete nun aber die Steuerleute auch bei jeder Gelegenheit mit Du an. So blieb es bis zum Schluß, nur daß wir an friedlichen Tagen manchmal die Anrede gegenseitig ganz umgingen. Die Matrosen waren übrigens immer auf meiner Seite.
Da wir bei dem schlimmen Wetter an der Bank vor Oporto nicht vorbei konnten, löschten wir einen Teil der Ladung in Leixoes. Vor dem Hafen war eine gewaltige Brandung. Ich kannte sie schon von früher.
Aus Zollgründen mußten wir vor jedem Hafen unseren Tabak an den Kapitän abliefern. – Das Essen war schlecht, aber reichlich.
Sonnabends gab's mittags den widerlichen Klippfisch; abends auch Klippfisch als Labskaus.
Wir erreichten Lissabon. Das Wetter wurde wärmer. – Ich machte Tauschgeschäfte mit den Zollbeamten.
Am 4. November gingen wir in Gibraltar vor