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dann, wenn die theologische Relevanz fraglich ist. Nicht alles, was religiös-theologisch aus der Sicht der Repräsentanten der Glaubensgemeinschaften wünschenswert erscheint, ist gleichzeitig auch gesamtgesellschaftlich akzeptabel.

      Die Befreiung vom Schulunterricht aus mäßig überzeugenden, religiösen Gründen, die Kontrolle des religiös-konformen Verhaltens bei Arbeitnehmern kirchlicher Einrichtungen auch in der Freizeit oder die Abweichung vom Neutralitätsgebot im öffentlichen Dienst – sprich Kopftuch tragende Lehrerin – zählen dazu. Eine verstärkte gesellschaftliche Diskussion über Normkonflikte und deren mögliche rechtliche Lösungen ist noch zu führen, der österreichspezifische Bauplan einer multireligiösen Einwanderungsgesellschaft ist noch nicht abgeschlossen.

       4.4 Religionsgemeinschaften: besondere Verantwortung

      Für viele Menschen gibt ihre Religion Antworten auf letzte Fragen und hilft bei der Bewältigung der Ungewissheit von Gegenwart und Zukunft. Sie gibt darüber hinaus gerade Zugewanderten Halt und Orientierung und ist damit für Integration wichtig. Aber Religionen sollten die Menschen nicht immer wieder in Gewissenskonflikte bei der Bewältigung des Alltags stürzen. Es sollte möglich sein, dass ein muslimischer Lagerarbeiter eine Bierkiste einräumt, ohne in Gewissensnöte zu geraten, weil er mit Alkohol hantiert. Es sollte möglich sein, dass ein muslimisches Mädchen am Schwimmunterricht im Badeanzug teilnehmen kann. Es sollte klar sein, dass eine Lehrerin religiös-weltanschaulich neutral den Schülerinnen und Schülern gegenübertritt und es müsste gestattet sein, dass ein Mitarbeiter eines katholischen Krankenhauses eine zweite Ehe eingeht.

      Religionsgemeinschaften tragen eine besondere Verantwortung, denn sie deuten und interpretieren jene Glaubensinhalte, die es den Gläubigen ermöglichen sollten, sich in einer religiös pluralen und säkularen Gesellschaft zurechtzufinden, ohne immer wieder in Glaubenskonflikte zu geraten. Das gilt insbesondere für die muslimischen Glaubensgemeinschaften. Die mitgebrachten religiösen Vorstellungen aus ihren Herkunftsstaaten können nicht eins zu eins übertragen werden, ein Zugehen auf die Aufnahmegesellschaft und gewisse Pragmatik ist einzufordern und sollte immer auch möglich sein, denn der Mensch und sein Wohlergehen sollen im Mittelpunkt stehen. Dass es in dem Bereich einen Nachholbedarf gibt, steht für den Autor dieser Zeilen außer Frage. Und man muss pragmatisch sein, denn eines ist klar: Gläubige und Nichtgläubige, Christen, Muslime, Juden und alle anderen Anhänger von Glaubensgemeinschaften müssen in einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft zueinander finden und ihren Glauben in toleranter Weise praktizieren. Wenn sie das nicht tun, werden sie in fragwürdige Konflikte hineingezogen, bei denen keiner gewinnt, aber alle verlieren.

ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG

       Ist die Bibel ein europäisches Buch?

       Eine Außenseiterperspektive 1

       Carl Stephan Ehrlich

      Ich muss zugeben, dass ich etwas verblüfft war, als ich die Einladung zu dieser Tagung erhielt; denn ich bin weder Europäer noch evangelisch, nicht einmal Christ. Doch als man mir zusicherte, dass man mich genau deswegen einladen wolle, nämlich damit ich eine Außenseiterperspektive zur Geltung bringe, habe ich sofort zugesagt. Aber bin ich, obwohl ich Jude und Amerikaner bzw. Kanadier bin, wirklich ein Außenseiter im heutigen Rahmen?

      Meine leider inzwischen verstorbenen Eltern2 waren gebürtige Wiener, die aus rassistischen bzw. antisemitischen Gründen aus ihrer Heimatstadt vertrieben wurden. Dennoch gelang es ihnen, in der Neuen Welt ein neues Leben aufzubauen. Allerdings, auch wenn man Menschen aus Europa vertreiben kann, bleiben sie in der europäischen Kultur im weitesten Sinne verwurzelt. So kam es, dass meine erste Sprache genau genommen das zu Hause gelernte Deutsch war und dass ich – wie mein Schwager es spöttisch nennt – in Wien am Connecticut River3 aufgewachsen bin, einem Fluss, den, wenn ich mich richtig daran erinnere, Heinrich Heine beschrieben hat, auch wenn er ihn nie zu Gesicht bekam. So spiegelt meine Herkunft die einseitige jüdische Liebesbeziehung zur europäischen Kultur – zur Kunst, Literatur und Musik –, aber leider nicht das Leben innerhalb der europäischen Kultur wider.

      Im Laufe meines Lebens habe ich die deutsche Sprache mehrmals verlernt, nur um sie mir immer wieder neu anzueignen dank meiner vielen Aufenthalte im deutschsprachigen Raum. Und wäre ich nicht leidenschaftlicher Baseballfan und seit einem halben Jahrhundert verrückter Anhänger der Boston Red Sox, würde mich als gebürtigen Amerikaner kulturell kaum etwas von einem gebürtigen Europäer unterscheiden. Es könnte freilich sein, dass ich mich gerade deshalb als Außenseiter in der heutigen europäischen Gesellschaft erweise, weil ich versuche, in der Kultur europäischer als die Europäer zu sein.

      Abb. 1a. Der Schülerausweis des Leonhard (später Leonard H.) Ehrlich. Er besuchte das jüdische Chajes-Realgymnasium in Wien.

      Aber lassen wir die Frage der kulturellen Zugehörigkeit als unbeantwortbar beiseite! Nicht zu übersehen ist, dass ich als Jude »In diesen heil’gen Hallen« – wenn ich eine der großen Arien Sarastros aus dem zweiten Akt von Mozarts Zauberflöte zitieren darf – ganz folgerichtig eine Außenseiterperspektive einnehme. Allerdings stehe ich damit wohl nicht allein. Jedenfalls kann ich als Jude sehr gut das Lebensgefühl von vielen von Ihnen nachvollziehen, die als kleine evangelische Minderheit im überwiegend katholischen Österreich leben. Aber wir leben zugleich auch in einem Zeitalter der Ökumene, das die früheren innerchristlichen Religionskriege durch friedliche theologische Debatten abgelöst hat, eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich in der modernen Welt auch auf die Beziehungen zu den Schwesterreligionen des Judentums und des Islams positiv auswirkt, und dies nicht nur in der europäischen Gesellschaft. Zwar sind sowohl der Dreißigjährige Krieg als auch die Schoah Vergangenheit, aber ihre Auswirkungen dauern weiterhin an.

      Abb. 1b. Der Reisepass der Edith Schwarz (verh. Ehrlich). Während der NS-Zeit mussten alle jüdischen Mädchen den Mittelnamen Sara annehmen, so wie alle Jungen den Mittelnamen Israel als Kennzeichen haben mussten.

      Nun komme ich endlich zu meinem vorgegebenen Thema: Ist die Bibel ein europäisches Buch? Die Frage scheint auf den ersten Blick einfach zu sein; aber sie ist vielschichtig und nicht leicht zu beantworten.

      Erstens, was ist mit »Bibel« gemeint? Als Jude würde ich die Frage anders beantworten, als es evangelische Christinnen und Christen tun würden. Katholiken und Katholikinnen würden wiederum eine andere Antwort geben, nicht zu reden von den verschiedenen christlich-orthodoxen Konfessionen. Von welcher Bibel soll hier die Rede sein? Von meiner oder ihrer? Soll es um die Hebräische Bibel bzw. den Tanach gehen oder um eine Zusammenstellung von Altem Testament und Neuem Testament, oder gar um eine Bibel, die aus dem Alten Testament, dem Neuen Testament und den Apokryphen besteht?

      Und zweitens, was ist Europa? Ist Europa ein Kontinent? Eine Kultur? Oder ein kulturgeschichtlicher und religiöser Bereich? Wie sollen wir Europa verstehen? Als einen geographischen Raum, als eine Idee oder als eine geschichtliche Größe?

      Beginnen wir mit der Bibel bzw. dem Tanach. Für mich als Jude besteht sie aus vierundzwanzig Büchern, die in drei Teile unterteilt sind, nämlich in Tora, Newi’im und Ketuwim oder Pentateuch, Propheten und Schriften. Darunter ist der erste Teil der theologisch weitaus wichtigste, da die Tora mit ihren sechshundertdreizehn Geboten als Quelle für das jüdische Leben und seine Praxis dient. Es ist auch die Tora, die auf Schriftrollen in der Synagoge zu finden ist und deren Lesung im Wochentakt im Mittelpunkt des synagogalen Gottesdienstes steht.4

      Die Stellung des sogenannten Alten Testaments im Christentum ist eine andere.5 Erstens wird die Sammlung der Bücher, die die jüdische Gemeinde als vierundzwanzig zählt, in der evangelischen Kirche als neununddreißig gerechnet.

      Zweitens befinden sich die Bücher des Alten Testaments zum Teil in

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