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ihrer Tendenz, sich in den Bereich der Welt auszudehnen. Diese Ausdehnung kann sich in vielen unterschiedlichen und kontextgebundenen Varianten vollziehen, je nachdem in welchen inhaltlichen Aspekten des christlichen Glaubens sie verankert werden. Ob es der Gedanke der Reform ist, der in seinen unterschiedlichen historischen Realisierungen die Voraussetzung für die Entstehung eines säkularen Zeitalters ist, wie Taylor vermutet, kann mit Recht bezweifelt werden. Gewiss ist aber die von Taylor und Martin beobachtete Dialektik der Säkularisierung zu beachten, die dazu führt, dass es gerade der Erfolg der Einbrüche (Martin verwendet den Begriff »incursions«) der Orientierungsmuster des christlichen Glaubens in die säkularen Wirklichkeiten ist, der dazu führt, dass die theologischen Voraussetzungen dieses Erfolges ignoriert werden und alternative Begründungsmuster, nun oftmals rein säkularer Art, aber immer mit einer gleichsam quasi-religiösen Aufladung, an ihre Stelle treten. Paul Tillichs Analysen der Quasi-Religionen haben angesichts der neuen Formen des Nationalismus in Europa, aber auch der Markt-, Konsum- oder Selbst-(Quasi-) Religionen nichts an Aktualität eingebüßt.29 Das gilt auch für die theologische Aufgabe, die Quasi-Religionen als moderne Formen des Götzendienstes zu analysieren und zu kritisieren.

      Die entscheidende Frage für eine solche Kritik der Konstellationen von Säkularität und Religion in Europa, die zugleich konstruktive Alternativen andeuten kann, besteht dann darin, aufzuweisen, aus welcher christlich-religiösen Perspektive die Bedingungen der Säkularisierung und der Korrektur ihrer problematischen Entwicklungen ins Auge gefasst werden. Rowan Williams hat dazu den Vorschlag gemacht, dass die spezifische Sicht des Christentums in einer Art »double vision«, in einer Art Doppelansicht auf die phänomenale Wirklichkeit bestehe.30 In dieser Doppelansicht werden die Ansichten eines säkularen Zeitalters kritisch gebrochen und so auch Perspektiven für die konstruktive Mitarbeit an der Gestaltung Europas sichtbar. Die Doppelansicht nimmt auf der einen Seite die gegenwärtige Wirklichkeit wahr, aber sie trägt nicht ihren eigenen letztgültigen Urteilsmaßstab in sich, denn sie steht noch sub judice, sie erwartet noch ihr endgültiges Urteil im Reich Gottes. Die Gewissheit des Glaubens, zum Reich Gottes berufen und auf dem Weg zu sein, führt nicht zu einer Abrogation der bestehenden Verhältnisse oder einer gnostischen Verneinung der Welt der Erfahrung. Sie ist ja schließlich die Wirklichkeit der Schöpfung, die Wirklichkeit, die durch die Inkarnation des Schöpfer-Logos geheiligt ist, die Wirklichkeit, in der der Geist als die Dynamik der eschatologischen Zukunft und so als die Begründung der Freiheit wirksam ist. Dennoch ist sie noch nicht die endgültige Wirklichkeit, und wir sind noch nicht am Ziel unserer Wege, in der Heimat, die unserer Bestimmung entspricht. Die Gewissheit des Glaubens, das lebensbestimmende Vertrauen auf den dreieinigen Gott, ist so die Begründung einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber allen Letztgültigkeitsansprüchen der Welt und einer epistemischen Bescheidenheit gegenüber dem, was aus der Welt als letzte Erkenntnis gewonnen werden kann. Die Zuversicht, dass sich die letztgültige Wahrheit in der Schöpfung durch die Menschwerdung des Logos, durch Kreuz und Auferstehung, im Medium der geschöpflichen Erfahrung durchsetzt, ist die Bedingung der Möglichkeit der Ausbreitung des Christentums in den Bereich der Welt, der säkularen Modifikationen der Inhalte und Handlungsorientierungen des christlichen Glaubens. Die Einsicht und Hoffnung des Glaubens, dass diese Welt noch auf ihre Vollendung wartet, noch unter der Knechtschaft der Vergänglichkeit seufzt, ist der Grund, den säkularen Modifikationen des christlichen Glaubens ihre Endgültigkeit abzusprechen, ja sie als theologisch kritikwürdig und aus der Einsicht des Glaubens, also gerade in dieser Doppelansicht gestaltungsfähig zu begreifen.

      Nun ist diese Doppelansicht nicht in abstrakter Form zu erfassen, sondern stets in den Konkretisierungen, die sie in den unterschiedlichen konfessionellen Gestalten des Christentums gewonnen hat, im römischen Katholizismus, in den orthodoxen Kirchen Europas, in den unterschiedlichen reformatorischen Kirchen und in den Freikirchen. Mit etwas anderer Akzentsetzung als Rowan Williams verstehe ich die reformatorische Kunst der Unterscheidungen zwischen dem opus Dei und den opera hominum, zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Person und Werk und zwischen den beiden Regimenten als Präzisierungen dieser Doppelansicht, die für das Christentum konstitutiv ist, als Präzisierungen, die sich am reformatorischen Verständnis der gestaltgebenden christlichen Einsicht ausrichtet und die sie in der Schrift als Quelle aller christlichen Traditionen bezeugt sieht, dass allein Gottes schöpferische Gnade, die allein in Christus realisiert ist und allein im Glauben angenommen werden will, das endgültige Ziel der Geschichte und damit die endgültige Erfüllung der Bestimmung des Menschen heraufführen wird.

      Für ein theologisches Verständnis Europas kommt es darauf an, gegenüber der falschen Eindeutigkeit der Säkularitäten diese Doppelansicht wiederherzustellen und so kritisch und konstruktiv Handlungsmöglichkeiten zur Gestaltung Europas zu gewinnen. Ernst Troeltsch hatte zweifellos recht, dass das, was er die europäische Kultursynthese nannte, und was wir besser als die Vision eines befriedeten, gerechten, Gewissensfreiheit gewährenden und Toleranz ermöglichenden europäischen Hauses des interreligiösen Gesprächs verstehen, eine praktische Aufgabe ist, die die Ressourcen der religiösen Traditionen zur dialogischen Verständigung nutzt. Ein solches theologisches Verständnis muss sich in der Mitarbeit in den Institutionen der europäischen Staaten und der europäischen Staatengemeinschaft bewähren. Ist die christliche Doppelansicht jeweils nur in ihren konkreten konfessionellen Gestalten und ihren theologischen Traditionen fassbar, kommt hier der Ökumene in Europa die besondere Aufgabe zu, diese unterschiedlichen Sozialgestalten, Lebens- und Reflexionsformen durch den für sie konstitutiven Bezug auf ihr gemeinsames fundamentum fidei zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei könnte sich erweisen, dass die ökumenischen Beziehungen die wirksamste Ressource zur Korrektur der Einseitigkeiten und problematischen Aspekte der jeweils vorherrschenden religiös-säkularen Konstellationen sind.

      Erweist sich der ökumenische Dialog – in wechselseitiger Kritik und Ermutigung – als Medium der gegenseitigen Verständigung zwischen den unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen des Christentums in ihren jeweiligen Säkularisierungskontexten, so gilt das in besonderem Maße auch für den interreligiösen Dialog, insbesondere mit dem Judentum und dem Islam. Die Ausrichtung auf die gemeinsamen Zielsetzungen in der Gestaltung des europäischen Hauses der Religionen und die Einübung gemeinsamer Regeln in ihren je unterschiedlichen Begründungen bietet dabei die Chance zur Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten, die die Religionen von rein säkularen Verständnissen des Menschseins im Kosmos unterscheiden. Die Gemeinsamkeiten können nicht durch den Vorgriff auf Postulate abstrakter Universalitäten des Menschseins oder der Vernunft vorausgesetzt werden, sondern nur in der faktischen Verständigung durch dialogische Übersetzungen einer Sicht in die andere, durch analogische Erweiterungen und durch responsorische Klarifikationen im Vollzug gewonnen werden.

      Worin besteht dann der Unterschied, wenn Europa nicht ohne Gott, sondern Gott in Europa, bezeugt von den unterschiedlichen Konfessionen und Religionen vorgestellt wird, wenn die Ansichten eines säkularen Zeitalters noch einmal aus der Doppelsicht der Religionen wahrgenommen werden? Allgemein formuliert könnte man sagen, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates und der europäischen Staatengemeinschaft dann nicht als Ausschluss der Religionen von den öffentlichen Deliberationen der Staatsbürger und Gesellschaftsmitglieder verstanden werden darf, sondern als Bedingung ihrer Teilnahme, als die Bereitstellung eines Rahmens zur Verständigung, der darum neutral ist, weil er den Raum freigibt für die jeweiligen religiösen und weltanschaulichen Dialogperspektiven der europäischen Bürger und Bürgerinnen. Religiös-weltanschauliche Neutralität als Restriktion für die Staaten und so als Einladung zur Partizipation an den gesellschaftlichen Beratungsprozessen für alle Bürgerinnen und Bürger, mitsamt ihrer jeweiligen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu verstehen, das ist die Herausforderung für ein Europa, das die Rede von Gott nicht vom öffentlichen Diskurs ausschließt.

      Was an den scheinbaren Selbstverständlichkeiten Europas würde dadurch kritisch in Frage gestellt, was würde konstruktiv zur Diskussion gestellt? Kritisch in Frage gestellt würde die absolute Gültigkeit dessen, was Charles Taylor den »immanent frame« des säkularen Selbstverständnisses genannt hat. Konstruktiv ermöglicht würde der dialogische Austausch darüber, wie die immanenten Interaktionsstrukturen der staatlichen Ordnungen in Beziehung zu den konkreten religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Bürger und Bürgerinnen verstanden werden, die im Judentum, Christentum und Islam die Transzendenz konkreter

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