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reiste und wen sie dort träfe.

      Er hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, aber seine Witwe klammerte sich gleich einer Schiffbrüchigen an die befristete Gemeinsamkeit, bestand hartnäckig auf der Exekution jeder Stunde. Mitunter hatte er versucht, das Datum zu manipulieren oder den Urlaub zu beschneiden. Als er feststellte, daß sie bösartig wurde, ja fast tückisch, hatte er es aufgegeben.

      Es war nicht die einzige Schwachstelle seiner neuen Identität, denn seine stillgelegte Ehefrau bestand darauf, daß er sich abwechselnd – einmal in der Woche brieflich oder telefonisch bei ihr meldete. Er tippte eigenhändig magere Briefe auf einer privaten Schreibmaschine, postlagernd München, im Turnus jeweils ein anderes Postamt. Noch riskanter waren die Telefonanrufe, die er alle 14 Tage – morgen wieder – führen mußte. In Sicherheitsfragen war Nareike ein Fanatiker des Details. Er fuhr nach Düsseldorf, um seine Mitwisserin jeweils von einem anderen Restaurant aus im Telegrammstil zu beschwichtigen, wobei Hannelore jedesmal in einem anderen Hotel der Isarstadt seinen Anruf erwartete. Das Schema wurde nach einem abgesprochenen Prinzip durchgespielt, so daß sie höchstens zweimal jährlich im gleichen Haus auftauchte.

      Das Verfahren war aufwendig und umständlich, aber sie blieben dabei, auch als sie sich längst daran gewöhnt hatten, daß sich niemand, und schon gar kein Staatsanwalt, Richter, Kriminalist oder Geheimdienst-Agent, für sie interessierte.

      Nareike wußte wohl, daß seine Frau ihre Qualitäten hatte – mitunter aber haßte er sie so, daß er sie hätte töten können. Diese Vorstellung war für einen Mann wie ihn weder spontan noch theoretisch, noch abwegig. Schließlich hatte er in seinem Leben schon weit härtere Dinge hinter sich gebracht als die Beseitigung einer einsamen Frau. Hannelores Ende war für ihn Teil eines Planspiels, vor allem, wenn es auf den Hochsommer, auf das vierarmige Verlies der Intimität, zuging.

      Nareike gab die lässige Haltung am Schreibtisch auf. Sein Entschluß war gefaßt. Einem Spieler gleich, setzte er alles auf eine Karte, und da er bei Frauen immer ein Falschspieler war, würde es eine gezinkte sein. Es war ihm nicht wohl dabei, aber er mußte Hannelore loswerden.

      Er öffnete noch einmal seine Knopfdruckbar, goß sich einen letzten »Rémy« ein; es war ein Abschiedstrunk, denn sein exakter Plan über den Verlauf der »Operation Heißes Geld« sah als erste Maßnahme den sofortigen Verzicht auf Alkohol vor, aber die ungewohnte Nüchternheit war nur eine unangenehme Seite des Einstiegs in die Zukunft.

      Sie war der einzige Gast in der kleinen Tagesbar; sie saß still in der Ecke, als horche sie in sich hinein. Sie kam in Abständen von fünf, sechs Monaten ins »Carlton«, seit Jahren schon, manchmal nur auf eine kurze Einkaufsrast, mitunter blieb sie in dem zentral gelegenen Haus auch über Nacht. Da sie ein, wenn auch seltener, Stammgast war, brauchte sie dann keinen polizeilichen Anmeldeschein mehr auszufüllen, und der aufmerksame Keeper wußte, daß die stille Frau Linsenbusch hieß – Hannelore Linsenbusch –, irgendwo im oberbayerischen Alpenvorland wohnte, aber ihrer Sprechweise nach aus Berlin oder jedenfalls aus Norddeutschland stammte.

      Sie wirkte stets schlicht angezogen, wenn auch nicht billig. Es schien ihr mehr am Geschmack zu fehlen als an Geld. Sie bestellte nie mehr als eine Tasse Kaffee und hinterher vielleicht noch einen kleinen Cointreau, aber wenn sie zahlte, ließ sie sich kein Wechselgeld herausgeben, das bedeutete wenig Mühe und ein schönes Trinkgeld, und so war sie, aus der Kellnerperspektive betrachtet, doch ein guter Gast.

      Sooft an der Rezeption das Telefon klingelte, schreckte die Besucherin – müde Augen in einem knochigen Gesicht, halblange, phantasielos geschnittene Haare – aus ihrer Versunkenheit hoch, um dann, wenn sie nicht gerufen wurde, wieder ins Grübeln zurückzufallen. Sie saß die Zeit ab wie eine Freiheitsstrafe, erschöpft vom Warten. Sie hinterließ den Eindruck, als wartete sie immer und meistens vergeblich.

      »Telefon in diesen Tagen, das ist furchtbar, gnä’ Frau«, sagte der Ober. »Das Netz ist ständig überlastet.«

      Die Besucherin nickte, ohne etwas zu erwidern. Alle Jahre wieder wurde der Adventsmonat zu ihrer schlimmsten Zeit. Hannelore war dann schon vier Monate von Horst – der jedesmal zornig wurde, wenn sie ihn nicht Werner nannte – getrennt und mußte sich sieben weitere bis zum nächsten Zusammensein gedulden. Während die Menschen kaufwütig durch die City drängten, spürte sie ihre Verlassenheit schlimmer denn je. »Süßer die Glocken nie klingen«, spielte eine Melodie halblaut in den Raum und verstärkte den bitteren Zug um Hannelores Mund. Der Stern von Bethlehem war allenfalls für die Registrierkassen der Warenhäuser aufgegangen, jedenfalls nicht für sie.

      »Frau Linsenbusch«, rief der Mann an der Rezeption.

      Sie erhob sich rasch und eilte behende in die Telefonzelle zwischen Tagesbar und Empfang und nahm den Hörer ab: »Ja, bitte«, sagte sie mit belegter Stimme, wartete und horchte, sie hörte nur ein Rauschen und legte langsam auf, wie in Zeitlupe. Die Verbindung war wieder einmal zusammengebrochen – sie wußte, daß die Kommunikation mit einem Verschollenen problematisch war.

      Hannelore ging mit fahrigen Schritten zurück. Der Keeper, der sich vielleicht nur langweilte, sagte sich, daß sie mit hohen Absätzen, einem kräftigeren Lippenstift und etwas Rouge mehr aus sich hätte machen können und vor allem machen sollen. »Wieder nicht geklappt?« drückte er sein Bedauern aus.

      Im Grunde war es gleichgültig, ob Horst sie um 16 Uhr oder um 17 Uhr erreichte. Seine Gespräche liefen wie vom Tonband, und das lag nur zum kleinen Teil an ihrem Mann und zum größeren an den Umständen.

      Mit seinen Briefen ging es ihr ähnlich. Sie glichen einander, als wären sie hektographiert. Es ging nicht anders. Horst – Pardon, Werner – mußte übervorsichtig sein, und obwohl Hannelore diese Verschwörertricks nicht lagen, hielt sie sich gewissenhaft an seine Anweisungen, um sich wenigstens ein minimales Arrangement zu bewahren.

      Sie waren Gestrandete der Stunde Null, und Hannelore hatte sich in der ersten Zeit damit getröstet, daß andere Frauen, deren Männer gefallen waren, weder einen vorprogrammierten Brief noch einen standardisierten Telefonanruf und schon gar keine vier Wochen Zusammenleben einmal im Jahr haben würden.

      Aber dann waren Männer wieder aufgetaucht, von denen man es nie erwartet hatte, ganz große des Dritten Reiches, nur leicht angeschlagen, sonst ziemlich ungeschoren. Hannelore war nicht neidisch, aber das hielt sie nun doch für ungerecht, zumal Horst viel früher als alle anderen erkannt hatte, daß der deutsche Schicksalskampf mit einem Debakel enden würde. Seine Intelligenz war für sie, und vor allem für ihren Vater, immer weniger in Frage gestanden als seine Treue zum Führer. Schon bei Kriegsausbruch hatte Horst wenig Begeisterung gezeigt, und als der deutsche Vormarsch vor Moskau liegengeblieben und die USA in den Krieg eingetreten waren, hatte er – freilich etwas angetrunken – festgestellt: »Du wirst lachen – auch diesmal werden wir verlieren.«

      Sie war entsetzt gewesen, zumal sie später feststellte, daß er nüchtern genauso dachte. Sie wenigstens wollte keine Defätistin sein, und Horst hätte als Schwiegersohn eines Reichsleiters wohl auch jeden Grund gehabt, den Helm fester zu binden und sich entschlossener in die Bewegung einzureihen. Eine Zeitlang hatte sie Horst wegen seiner laxen Auffassung sogar verachtet. Später begann sie zu fürchten, daß er recht behalten könne, denn der Feind rückte immer näher. Die deutschen Städte lagen zunehmend im Bombenhagel, und alle gewöhnten sich an, die Zeitungen von hinten nach vorne zu lesen, wegen der vielen kleinen Todesanzeigen.

      Horsts Dienststelle hatte Paris räumen müssen, er war jetzt wieder in Berlin, sie noch immer in Breslau, und Horst jr., ein aufgeweckter Junge, an dem sie beide gleichermaßen hingen, wurde mit noch nicht einmal 14 Jahren als Flakhelfer eingezogen. Kurz nach der letzten Kriegsweihnacht erschien sein Vater in Breslau und forderte Hannelore auf, das Wichtigste zusammenzupacken und sich abmarschbereit zu machen. Er sei für sie verantwortlich und wolle sie nach Oberbayern evakuieren. Sie war zuerst so verblüfft, daß sie sich wehrte; sie nahm an, es hinge wieder mit einer seiner dummen Weibergeschichten zusammen, aber Horst erklärte ihr, daß der Reichsführer SS bereits falsche Ausweise an seine engsten Mitarbeiter ausgeben lasse, er verzog den Mund: »Und Zyankali-Kapseln, die in ein paar Sekunden tödlich wirken – aber wenn du noch immer an Wunderwaffen glaubst, brauchst du kein Gift, dann werden schon die Russen für dein Ableben

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