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seine Schwäche; er hatte schlimmere, und sie durfte ohnedies, um nicht aufzufallen, das Geld nur heimlich ausgeben, bis sie wieder an ihr mütterliches Erbe herankäme.

      »Bedanke mich, Herr Kollege«, sagte Amtsrichter Dr. Kleinwacht, legte auf und sah, daß die Besucherin hochschreckte: »Also, Frau Linsenbusch«, wandte er sich an die Besucherin, offensichtlich erleichtert, daß er sie nicht mit bürokratischen Schikanen traktieren mußte: »Die Staatsanwaltschaft hat bis jetzt keine Einwände erhoben. Wir werden in den nächsten Tagen die Akten zurückerhalten. Ich denke, daß das erste Aufgebot in der Verschollenheitsliste des ›Bundesanzeigers‹ vielleicht schon in einer der nächsten Ausgaben stehen kann.«

      Er stand auf und wunderte sich, daß sich die Besucherin kaum bedankte, aber Hannelore Linsenbusch war zerstreut, denn sie rechnete, überprüfte das Resultat und addierte noch einmal: Juni, Juli, August, dann wäre die Einspruchsfrist vorbei. Sie wußte, daß ihr ein heißer Sommer bevorstand.

      Immer wieder hatte Nareike diese Szene als Alptraum erlebt. Er goß sich vor den Augen des Ersten Staatsanwalts Dr. Frischmuth und des ihn begleitenden Kriminalkommissars rasch noch einen »Rémy« ein und kippte den Schnaps hinunter, als sei es der letzte in seinem Leben oder zumindest für lange Zeit: »Haftbefehl?« fragte er mit taumelnder Stimme.

      »Ja. Ausgestellt vom Landgericht Essen.«

      Der Beamte reichte ihm das Schreiben.

      Nareike starrte es an, unfähig zu lesen. Die Wörter zerbrökkelten vor seinen Augen wie die Dollarmillion, wie Sabine und alle weiteren Pläne: Aus, vorbei, vergebens, zu spät, gescheitert!

      »Ich nehme an, es ist auch in Ihrem Intersse, Herr Nareike«, sagte der Staatsanwalt, »die Sache so unauffällig wie möglich über die Bühne zu ziehen.«

      Der Bevollmächtigte von Müller & Sohn nickte mit steifem Nacken. Er spürte seinen Halswirbel, als wäre er wieder in Landsberg. Ob er hier nun Spießruten liefe oder nicht, wäre letztlich unwichtig. Sein Mund war trocken, und doch schmeckte sein Speichel nach Seife. Es kam vom Cognac. Er merkte, wie das Blut in seinen Schädel strömte, wie sein Kopf schwoll und schwoll, so sehr, als würde er gleich platzen. Er wollte trotz allem keine schlechte Figur machen. Er sah wieder auf den Haftbefehl, merkte, daß sich die Buchstaben langsamer drehten, schließlich stehenblieben, seltsam aneinandergelehnt, als müßten sie sich stützen, während sie sich zu Worten, Sätzen und Begriffen formten.

      Ohne Begreifen, blieb er an einem Namen hängen: Erich Pribke.

      »Kenn ich nicht«, sagte er. »Nie gehört.«

      »Das wundert mich nicht«, antwortete Dr. Frischmuth geduldig: »So heißt der Mann, den wir suchen, tatsächlich.« Es erstaunte ihn doch, daß ein Manager in einer solchen Position so langsam begriff. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte er.

      »Doch, doch …«

      »Erwin Brill ist nur der Name, den sich der Gesuchte zugelegt hat.«

      »Wie ist denn so etwas überhaupt möglich?« fragte Nareike, der es am besten wissen müßte. Der Stau in seinem Kopf hatte sich aufgelöst. Seine Reaktionsfähigkeit war zurückgekehrt. »Nehmen Sie doch Platz, meine Herren.« Er tippte sich an den Kopf. »Ich bitte Sie, meine Unhöflichkeit zu entschuldigen, aber ihre Eröffnung hat mich so überrumpelt, daß …«

      »Tut mir leid«, erwiderte der Kriminalkommissar. »Wir hätten es Ihnen gern erspart, aber durch unsere Ermittlungen sind wir in den letzten Tagen so in die Nähe des Angeschuldigten gekommen, daß Gefahr in Verzug bestand.« Er sah Nareike an. »Fluchtgefahr.«

      »Was liegt gegen Brill oder Pribke eigentlich vor?«

      »Mord beziehungsweise Beihilfe zum Mord in bis zu 30000 Fällen«, antwortete Dr. Frischmuth. »Der Mann war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Zeitlang als SS-Hauptsturmführer stellvertretender Kommandant des KZ Bergen-Belsen.«

      »Unser Brill?« rief er schwerelos wie ein Schluckspecht im ersten Stadium. Er lachte, rauh und häßlich: »Erwin Brill, der Bückling?« Er wollte sein Gelächter unterdrücken und fiel in einen Hustenkrampf.

      »Ich kann das wirklich nicht so lustig finden«, erwiderte der Erste Staatsanwalt pikiert.

      »Natürlich nicht«, entgegnete Nareike und entschuldigte sich ein zweites Mal. »Ich hätte nur eine Bitte: Können wir die Festnahme unauffällig regeln und so weit wie möglich gegenüber der Öffentlichkeit abdichten?«

      »Das liegt auch auf unserer Linie«, versicherte der Kriminalkommissar. »Wer hat eigentlich Pribke als Personalchef eingestellt?« fragte er dann.

      »Der alte Müller, unser Firmengründer, persönlich. Aber sicher im guten Glauben, dafür verbürge ich mich.«

      Der Kriminalkommissar erwiderte nichts.

      »Brill hatte ausgezeichnete Referenzen von anderen Firmen.«

      Ihrem Gesicht nach verglichen die beiden Beamten sie offensichtlich mit den Referenzen aus Bergen-Belsen.

      Nareike ging in sein Vorzimmer: »Holen Sie Herrn Brill, Sabine«, bat er. »Er möchte sofort hierherkommen, auch wenn er in einer Besprechung ist.« Er sah sie an wie ein aus der Narkose erwachter Patient, begreifend, daß sein Herz die Operation durchgestanden hat, ein schneller Rekonvaleszent. »Und bitte kein Wort über die Sache im Betrieb.«

      Die Blondine nickte, sie hatte längst begriffen, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte.

      »Wie sind Sie auf ihn gekommen?« fragte Nareike die Beamten.

      »Die Zentralstelle in Ludwigsburg«, antwortete Dr. Frischmuth, »bringt seit drei Jahren endlich System in die Ermittlungen.«

      »Ziemlich spät«, entgegnete Nareike.

      »Allerdings«, erwiderte der Staatsanwalt. »Aber dafür gründlich – und vielleicht doch nicht zu spät.«

      »Darf ich den Herren einen Drink …«

      »Ein andermal gerne«, antwortete der Beamte. »Jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

      Auch Nareike verzichtete; es fiel ihm schwer.

      Dann kam Brill, grüßte höflich und stumm, wirkte wie immer, eine Spur zu beflissen, wie zum Sprung bereit, um seine Tüchtigkeit vorzuführen.

      »Mensch, Brill«, riß Nareike das Gespräch an sich. »Entschuldigen Sie, meine Herren, bevor Sie in Ihre Amtshandlung eintreten, möchte ich in meiner Eigenschaft als Generalbevollmächtigter dieses Hauses unserem bisherigen Personalchef eine Frage vorlegen.«

      Der Kommissar wollte es verhindern, aber Dr. Frischmuth gab ihm einen Wink, Nareike weitersprechen zu lassen.

      »Heißen Sie Brill oder Pribke?«

      Der Personalchef war nicht mehr beflissen. Er wirkte seltsam starr, gelähmt von einer Platzangst, auch seine Stimme hatte sich verloren.

      »Brill«, sagte Nareike eindringlich. »Es interessiert mich einen Dreck, was Sie in Bergen-Belsen gemacht haben oder auch nicht. Das ist keine Angelegenheit unserer Firma. Sie waren hier Personalchef, zuständig für mehr als tausend Mitarbeiter, Sie haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Müller & Sohn nicht in Ihre Scheißvergangenheit hineinzuziehen. Mein Vorschlag: Sie sagen jetzt die Wahrheit. Die Herren nehmen Sie mit, und ich erfinde eine provisorische Begründung für Ihren Abgang. Wenn wir uns auf diesen Modus einigen können, bin ich bereit, auf Firmenkosten Ihre Verteidigung zu übernehmen und dafür zu sorgen, daß Ihre Familie keine finanziellen Sorgen hat. Hören Sie mir zu, Mann?«

      »Aber ja, Herr Nareike«, erwiderte Brill. Er sah in diesem Moment mehr kläglich als gefährlich aus. Es schien fast unvorstellbar, daß ihm in seiner früheren Tätigkeit auch nur die Hand ausgerutscht sein könnte.

      »Bleiben Sie aber stur und gerät dadurch Müller & Sohn in die Schlagzeilen, dann sind Sie für mich abgeschrieben.« Hart setzte Nareike hinzu: »Und auch Ihre Familie, so leid es mir täte.« Er sah Brill durchdringend an. »Haben

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