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ließ Ritt den Rest der Verhandlung über sich ergehen. Er hob die Schultern, als regne es. Die Worte, die man wie Pfeile gegen ihn abschoß, den rüden Ton – das alles kannte er längst.

      »Sie wissen, was Sie sind?« rief der Vorsitzende.

      Ritt betrachtete ihn, es schien, als sähe das Opfer arrogant auf seinen Richter hinab.

      »Sie sind ein Defaitist! Ein Lump! Ein Vaterlandsverräter!«

      Das Echo schwebte lange im Saal, als hätte sich der Raum längst an Phrasen überfressen.

      Der Angeklagte preßte die Lippen fest aufeinander. In den Mundwinkeln sagten nur verächtliche Falten, daß er mit der Tapferkeit, der Ehre und dem Vaterland fertig sei. An diesen Schlagworten waren zu viele verblutet. Zu viele Menschen wurden von ihnen verhetzt, verdammt und verheizt, als daß sie für den Hauptmann noch einen Sinn gehabt hätten.

      »Sie sind ein Feigling, Mann!«

      Die Falten an den Mundecken des Angeklagten, die einzigen in dem straffen Gesicht, das von sachlichen grauen Augen beherrscht wurde, traten deutlich hervor, zogen Linien zur Nase, als rügten sie die schlechte Luft.

      Feigling? Wie damals am Rand des Schwimmbeckens. Geschlossene Klasse, Dreizehnjährige. Und Müller zwo, der dümmliche, dicke Turnlehrer, deutet auf den Fünfmeterturm. Die Mitschüler zittern vor Angst. Aber sie steigen nach oben, einer hinter dem anderen, schneidig auf Befehl. Weil sie keine Courage haben, legen sie die Mutprobe ab. Bis auf einen, den letzten: Martin.

      Feigling! So brüllten sie ihn zusammen. Auch die Mitschüler jetzt, die es überstanden haben. Dann gehen sie. Und dann springt er. Freiwillig, ohne Überwindung, ohne Furcht vor dem Tadel, ohne Sucht nach dem Lob, vom Fünfmeterbrett. Nach vorn fallen lassen, Arme ausstrekken, Kopfsprung – nicht wie die anderen, mit den Beinen voran.

      »Sie haben das letzte Wort«, sagte der Vorsitzende schroff.

      »Ich verzichte.«

      »Überlegen Sie sich das noch einmal«, entgegnete Dr. Schiele, »vielleicht könnten wir – in Anbetracht …«

      »Ich verzichte trotzdem«, antwortete der Angeklagte und setzte dann noch hinzu: »Ich habe den Krieg satt, der Führer, Großdeutschland – das alles kann mir …«

      Weiter kam er nicht.

      Zehn Minuten später wurde sein Versagen an der Front wie sein Verhalten vor Gericht entsprechend bestraft: »… ist der frühere Hauptmann Ritt«, verlas Dr. Schiele mit erhobener Stimme, »wegen Feigheit vor dem Feind, wegen Befehlsverweigerung und Wehrkraftzersetzung zum Tode durch Erschießen zu verurteilen …«

      Der Angeklagte stand ruhig, sein Gesicht schien offen eine Zustimmung zu dem Urteil zu zeigen.

      »… und aus der Wehrmacht auszustoßen …«

      Das ist das Schlimmste, dachte er sarkastisch und machte sich wieder einmal zum Sterben fertig.

      IV

      Drei Tage oder drei Wochen vor Martins Erschießung – der Tod war sicher, doch die Stunde ungewiß – betrat ein seltener Gast sein Verlies: Richter fütterten zwar das Gefängnis mit Schicksalen, aber es war nicht üblich, daß sie hinterher ihre Opfer auch noch besuchten.

      Das Grauen hing in der Zelle wie ein schlechter Geruch, an den sich der degradierte Hauptmann Ritt inzwischen gewöhnt hatte. Er stand gleichmütig im Halbdunkel, als Dr. Schiele den Raum betrat.

      »Kennen Sie mich noch?« fragte der Mann mit den Basedowaugen.

      »Allerdings«, antwortete Martin.

      Der Kriegsgerichtsrat zündete sich eine Zigarette an, nahm zwei, drei rasche Züge.

      »Stehen Sie bequem«, befahl er dann mit jovialer Kälte. Er nahm die Zigarette noch einmal zur Hand, betrachtete dann Martin, als müsse er sich seine Großzügigkeit noch überlegen, entnahm dann dem Päckchen eine Zigarette, wies sie dem Häftling vor wie einem Hund das Holz, warf sie ihm zu.

      Martin apportierte nicht; die Zigarette rollte unter die Pritsche.

      »Verwöhnt?« fragte Dr. Schiele.

      »Wie man’s nimmt.«

      »Für einen Mann, der morgen erschossen wird, sind Sie noch hübsch arrogant, Sie Nichtraucher.«

      »Ich habe mir manches hier abgewöhnt.«

      Dr. Schiele betrachtete den Mann, dessen Todesurteil er gefällt hatte. Es ärgerte und gefiel ihm, daß er die Würde dieses Gefangenen nicht zerbrechen konnte. Er mochte die anderen nicht, die vor ihm winselten; jetzt aber verdroß es ihn, daß einer anders war.

      »Setzen Sie sich, Ritt«, sagte der Kriegsgerichtsrat.

      Der Häftling setzte sich auf die Pritsche, unter der die Zigarette lag. Schiele nahm den Hocker und ließ sich breitbeinig darauf nieder.

      Wieder sahen sie einander an; dann bot der Richter Martin aus dem Päckchen eine andere Zigarette an. Ritt nahm sie und bedankte sich stumm.

      »Ich bin hier, weil ich trotz allem eine Schwäche für Sie habe«, sagte der Kriegsgerichtsrat. »Sie sind der mutigste Feigling, den ich je erschießen ließ. So etwas interessiert mich.«

      »Warum?« fragte Martin zerstreut; er versuchte, nicht gierig zu rauchen.

      »Ich sagte Ihnen doch schon, daß Sie morgen …«

      »Ja, sicher.«

      »Ich könnte es verhindern, wenn Sie mich darum bäten.« Er betrachtete den Delinquenten interessiert.

      Wenn ich das Gespräch verlängere, überlegte Martin, gibt er mir noch eine zweite Zigarette und vergißt vielleicht die dritte unter dem Bett.

      »Also dann nicht.« Dr. Schiele drückte seine Zigarette aus, hielt die Kippe zwischen den kräftigen kurzgliedrigen Fingern wie das Geschick seines Angeklagten, preßte sie aus, zündete sich die nächste an. Seine Lippen, die wie geschlossen wirkten, rauchten genüßlich und lächelten steif.

      »Sie interessieren mich«, fuhr er fort, »wie einen Arzt eine medizinische Anomalie. Nehmen Sie an, ich wäre ein Anatom und Sie lebten ohne Herz …«

      »Sie haben ein Herz?« unterbrach ihn der Gefangene spöttisch.

      »Was erlauben Sie sich?« fragte Schiele ruhig.

      »Was soll ich noch fürchten?«

      »Sie werden gar nicht erschossen«, erwiderte Dr. Schiele. »Ich habe Sie schon von der morgigen Hinrichtungsliste absetzen lassen.«

      Martins Gesicht blieb beherrscht. Er hatte nicht daran geglaubt, daß er am nächsten Tag exekutiert würde, nun wollte er auch nicht daran glauben, daß die Hinrichtung verschoben sei. Er zeigte eine unmenschliche Haltung, aber er wußte, daß sie nicht echt war, daß er sie bald mit siedender, fiebernder Todesangst bezahlen müßte.

      »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte Dr. Schiele. »Ich habe mir den Fall noch einmal angesehen. Ich wußte gar nicht, daß Ihr Vater Friedrich Wilhelm Ritt, Wehrwirtschaftsführer in Frankfurt, hoher Parteifunktionär, Standartenführer der Reiter-SS und …«

      »DAF-Betriebsleiter, NSKK-Standartenführer, Mitglied des Reichstags, des …« Die Lippen Ritts sprühten die Titel und Namen der Organisationen wie ein Mittel zur Vertilgung von Insekten.

      »Danke, genügt«, sagte der Richter, ohne zu lächeln. »Wenn ein Mann wie Ihr Vater etwas für Sie unternimmt, dann kommen Sie noch einmal davon.«

      »Vielleicht«, sagte der Delinquent unbeteiligt.

      »Weiß Ihr Vater, daß Sie …?«

      »Nein.«

      »Sie haben ihm das Urteil nicht mitgeteilt?«

      »Nein.«

      »Verstehe«, sagte Dr. Schiele, »Sie wollen

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