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Die wilden Jahre. Will Berthold
Читать онлайн.Название Die wilden Jahre
Год выпуска 0
isbn 9788711727157
Автор произведения Will Berthold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Dann waren die anderen heran.
Der Soldat hob die Hände, seine Lippen zitterten stumm. Dann rief er flehend: »Don’t do that!« Er sprach, als betete er.
»Schlag das schwarze Schwein tot!« brüllte eine Hilfsarbeiterin.
Sie fielen mit Knüppeln, Gewehrkolben und bloßen Fäusten über ihn her; als sie sahen, daß ihm das Blut über das Gesicht lief, zertrampelten sie im Blutrausch seinen Kopf.
Einige waren betroffen, andere verlegen, als sich der Amerikaner nicht mehr rührte.
Wehrwirtschaftsführer Friedrich Wilhelm Ritt hatte vom Hauptgebäude aus den Zwischenfall verfolgt. Er fuhr mit dem Wagen zu seinem Außenlager – er kam zu spät. Die Gesichter der abgesprungenen Feindflieger waren nicht mehr grau, sondern rot, soweit noch etwas zu erkennen war.
Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Es graute ihm vor dem Verbrechen, das sie verübt hatten, aber er sagte:
»Geschieht diesen Schweinen ganz recht. Was führen sie Krieg gegen Frauen und Kinder.«
Friedrich Wilhelm Ritt lief zurück zu seinem Hauptgebäude, leicht vornübergebeugt. Sein Gesicht war gedunsen, schlaff. Die faltige Haut war ihm zu weit geworden, sie machte die Mensurschmisse zu schmalen roten Strichen. Der Wehrwirtschaftsführer sah ungut aus, kränklich.
Die Sirenen heulten Entwarnung.
Ritt ging in sein Büro. Er sah lauter Neger mit roten Gesichtern. Indianer, dachte er, Scheißbande. Immer mehr. Aber am Marterpfahl stand er. Delirium tremens, hämmerte es in seinen Schläfen, doch dann kam die Angst wieder, diese quälerische Frage, was nach dem Zusammenbruch geschehen würde.
Er hätte das Bild der gelynchten Flieger gern in Schnaps ertränkt, aber er mußte auf einen Hoheitsträger von der Gauleitung warten, der sich angesagt hatte, und so blieb der Reichstagsabgeordnete heute länger nüchtern als sonst.
Der Raum war überheizt, doch Friedrich Wilhelm Ritt fror. Sein Blick war stumpf wie ein Wetzstein, nichts an ihm wirkte mehr markant. Jetzt, im Januar 1944, hätte er gern seinen Führer, durch den er beides geworden war: ein Millionär und ein Mörder, aufgegeben. Aber es war zu spät, er hatte sich zu stark exponiert und hatte zuviel zusammengerafft; deshalb suchte er längst nicht mehr den Luftschutzkeller auf.
Ritt war Reserveoffizier des Ersten Weltkrieges gewesen, hatte einem Freikorps angehört, wurde nach dessen Auflösung Korpsstudent, Jurist, Syndikus und Arbeitsloser. Nach der Inflation liehen ihm Verwandte Geld. Er kaufte sich in eine Möbelfabrik ein, die zwei Jahre später in Konkurs ging; den Antrag hatte der alte Lessing gestellt, ein jüdischer Mitbürger, und seitdem war Friedrich Wilhelm Ritt ein wilder Antisemit. Er landete folgerichtig bei der braunen Bewegung und blieb ein Nichts im bürgerlichen Leben, bis sein Führer an die Macht kam.
Er arisierte Betriebe, die später Granaten produzierten, wurde ein wichtiger Mann der Rüstung, für die ein Heer von Ausländern arbeiten mußte. Schufteten die Verschleppten nicht willig, genügte ein Wink des alten Ritt, sie ins KZ zu bringen.
Er war für viele dieser Einweisungen verantwortlich, aber es belastete ihn nicht; das war anonym geschehen, mündlich, ohne schriftliche Unterlage, ohne jeden Beweis. Der Wehrwirtschaftsführer hatte dabei höchstens telefoniert.
Der Tag ging langsam zu Ende. Der Mann von der Gauleitung verspätete sich. Ritt war es gleich, was er von ihm wollte.
Martins Vater saß am offenen Kamin. Er hatte sich in eine Decke gehüllt. Der Kognak war gut chambriert, aber er hielt den Schwenker, als müsse er das Glas anwärmen. Er starrte in das Feuer, dessen Widerschein blutig auf seinem Gesicht flackerte und die Falten beweglich machte, die Augen noch tiefer in die Höhlen senkte, die dünnen Lippen noch starrer formte.
Er beugte sich nach vorn, starrte in die Flammen des Kamins, die nach oben leckten wie in der Kristallnacht. Und wieder erlebte er den Spuk, brüllte er in der SA-Versammlung.
Die Instinkte, die sie einst zur Bewegung gebracht hatten, dürfen sich austoben: die Lust, in Massen zu heulen, die Wonne, in Horden zu prügeln, die Gier, in Haufen zu plündern.
Wieder steht Ritt vor der Synagoge, rüttelt am Tor, schaut zu, wie seine Kameraden das massive Eisengitter aufsprengen, in das Haus drängen, die silbernen Leuchter beiseite stoßen, die Bundeslade umwerfen – und wieder steht ein Mann vor ihnen, einsam, allein, würdig: Kommerzienrat Lessing, Wohltäter und Ehrenbürger der Stadt, der den Brandstiftern entgegentritt, die vor dem weißhaarigen, gebeugten Mann zurückweichen.
Wieder sieht er den Juden, den Hauptgläubiger, den Mann, der ihn zum Konkurs zwang – und wieder erlebt er, wie er die Hand hebt, Lessing niederschlägt, die anderen heranholt, die den Röchelnden zerschlagen, zertreten, zerfetzen.
Fast gewaltsam stand der alte Ritt auf und lief mit schweren, unruhigen Schritten durch den Raum. Er wandte seinen Blick vom Kamin ab, von den Flammen weg, aber es half nichts – das Blut rinnt, die Synagoge brennt, die Flasche kreist, die Horde brüllt, der Jude stirbt.
Ritt warf die Flasche in das Feuer. Das Glas zersprang, die Flüssigkeit zischte, der Alkohol nährte die Flamme. Alles Unfug, überlegte er, keiner denkt mehr daran, niemand spricht mehr davon, nur: Was ist aus Lessings Sohn geworden, Martins Mitschüler, der nach Amerika vorausflog, um für seinen Vater Quartier zu machen? Der Alte brauchte es nicht mehr – sein Quartier lag seit der Kristallnacht unter der Erde.
Wäre diese bohrende, würgende Angst nicht, hätte Friedrich Wilhelm Ritt seine Weltanschauung weggeworfen wie zerrissene Socken. So aber konnte er nicht. Er war verdammt, bei der Hakenkreuzfahne zu bleiben, deren Ende sein Ende sein mußte; und so haßte er alle, die nicht ihr Leben einsetzten, um dieses Ende hinauszuschieben, so hoffte er wider besseres Wissen auf Wunderwaffen, obwohl er aus seinem eigenen Betrieb wußte, wie es wirklich aussah.
Ritt hatte alles falsch gemacht, seitdem seine erste Frau Germaine von ihm gegangen war. Die zweite Ehe: ein zweiter Fehlschlag. Denn die Jahre des Kampfes, der Sieg, der Aufstieg – ein Leben, wie er es sich gewünscht hatte und dessen Rechnung er doch nicht bezahlen wollte.
Martin, seinen einzigen Sohn, hatte er in ein Internat gesteckt und fast nie gesehen. Er wußte, daß der Junge ihn nicht mochte; und im Laufe der Jahre wurde ihm Martin auch innerlich so fremd, wie er äußerlich von ihm verschieden war.
Als der Junge sich an der Front auszeichnete, hätte er ihn gern bei seinen Parteifreunden herumgereicht, aber Martin wollte nicht. Jetzt gestand sich Friedrich Wilhelm Ritt ein, daß er von seinem Sohn seit fast zwei Jahren nichts mehr gehört hatte. Der Junge mied ihn; es war dem Alten eine Zeitlang ganz recht gewesen, wenn es sich auch nicht gehörte und teilnehmende Fragen nach Martin oft recht peinlich wurden.
Endlich kam der Mann von der Gauleitung; es war Silbermann, Leiter der Rechtsabteilung, der unter seinem Namen litt, obwohl er Reinarier war. Er hatte eine seltsame Kopfform, oben dick, unten dünn; sein Schädel sah aus wie eine umgedrehte Birne an einem viel zu dünnen Stiel.
»Ich soll dich vom Gauleiter herzlich grüßen«, sagte der Hoheitsträger schon von weitem.
»Danke«, erwiderte Ritt, »was gibt’s Neues?«
»Nichts Besonderes.«
»Warum kommst du? – Kognak, Wein, Sekt, Zigarre?«
»Nicht soviel auf einmal.« Silbermann lachte gezwungen. »Aber wenn du vielleicht etwas zu essen hättest …« Er trug die senffarbene Uniform, aber er trug sie nicht mehr so stolz, jedenfalls lieber nachts als am Tage, denn er deutete die Blicke vieler Passanten richtig. Auch er konnte wegen der verdammten Judentransporte nicht abspringen, die er zur Frontbewährung beim Sicherheitsdienst geleitet hatte, woran er sich jetzt ungern erinnerte.
Sie setzten sich an den Kamin, tranken.
»Also, was ist los?« fragte Ritt. Er spürte, daß Silbermann mit schlechter Nachricht kam.
»Es handelt sich