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Die wilden Jahre. Will Berthold
Читать онлайн.Название Die wilden Jahre
Год выпуска 0
isbn 9788711727157
Автор произведения Will Berthold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er besuchte einen Offiziersklub, aber er traf keine Bekannten, erfuhr, daß sie in einer requirierten Villa im Münchener Norden eine »Schwabinger Nacht« veranstalteten. Er hatte keine Lust auf Liebe, aber er brauchte Menschen, Lachen, Gesellschaft, Ablenkung.
Als er ankam, waren die meisten schon betrunken. Mädchen liefen lachend und halb nackt durch die Räume, verfolgt von Amerikanern, die sie tolpatschig jagten. In diesem Stadium war das Vergnügen mehr komisch als orgiastisch.
Die Offiziere gehörten zu einer amerikanischen Dienststelle mit deutschem Personal, die ihren Stenotypistinnen eine amerikanische Mahlzeit und eine Bescheinigung für das Arbeitsamt bieten konnten. So kamen immer mehr Favoritinnen hinzu.
»Hallo, Felix«, rief eine Platinblonde, aber der Captain ging weiter, ohne sich um sie zu kümmern.
»Laß ihn stehen!« rief ein anderes Mädchen, »du siehst doch, daß er schlechte Laune hat.«
Felix hatte sonst nichts gegen diese Fräuleins einzuwenden, aber er wollte den Tag, auf den er so lange gewartet hatte, nicht entweihen. Er legte Platten auf und trank, sah sich um dabei: Nicht nur der Hunger treibt sie zu Paaren, dachte er, die meisten wollen weniger candies oder Schnitzel, als mit einem Mann zusammensein und keine Feldpostbriefe schreiben. Sie wollen nachts zärtliche Musik hören und nicht auf das Rauschen der Bomben warten. Lieber tanzen und flirten als bangen und sterben. Deshalb nehmen sie diese kräftigen, harmlosen GIs mit den Stifteköpfen in ihre Liebesschule – und diese unverdorbenen Burschen aus den matriarchalischen Staaten lassen sich von ihren Fräuleins für die Nacht abrichten wie Hunde für die Jagd: Hunde, die eifrig apportieren …
Felix wollte den anderen den Abend nicht verderben und ging. An der Tür begegnete er einem jungen frischen Mädchen, das er hier noch nie gesehen hatte, das verloren dastand und, einen Brief in der Hand haltend, ratlos dem lärmenden, tanzenden Treiben zusah.
Eine Betrunkene faßte die Widerstrebende am Arm und versuchte, sie in den Raum zu ziehen.
»Nun komm schon, Susanne – sei nicht so zimperlich!«
Felix erkannte sofort, daß es sich hier um ein Mädchen und nicht um ein Fräulein handelte, das man unter einem Vorwand in die Falle einer Wohnung locken wollte.
»Lessing«, er verbeugte sich knapp. »Das hier ist nichts für Sie. Kommen Sie, ich bringe Sie nach Haus.«
»Ja – aber, ich kann doch …«
»Kein Aber«, entgegnete er.
»Wenn der Brief…«
»Und auch kein Wenn«, setzte er hinzu, während er das Mädchen Susanne zu seinem Wagen führte.
VII
Die Gehängten baumelten drei Tage; die Gefangenen standen vierundzwanzig Stunden. Wer umfiel, wurde mit kaltem Wasser begossen. Die Knöchel waren dick, der Mund trocken. Die Kälte schnitt in die Haut. Der neue Kommandant des Wehrmachtsstrafgefängnisses, dessen Vorgänger wegen seiner »schlaffen Haltung« abgelöst worden war, bewies seine Härte.
Martin Ritt gehörte zu den wenigen, die nicht umfielen. Er stand in der ersten Reihe, und er prägte sich jede Einzelheit ein, entschlossen, falls er die Hölle überlebte, sie und ihre Teufel niemals zu vergessen. Er wußte nunmehr, daß es etwas anderes war, im Gefecht zu fallen als von Landesschützen erschossen zu werden. Martin brauchte sich nicht mehr zu überlegen, ob es falsch gewesen war, sich nicht an seinen Vater um Hilfe zu wenden: er erfuhr, daß der alte Ritt sich geweigert hatte, ein Gnadengesuch für seinen Sohn einzureichen.
Die Strafanstalt war im Warthegau, ostwärts von Berlin. Zwischen Leben und Sterben standen im besten Fall zwei Stunden und im schlechtesten zehn Minuten. In der Regel wurde zwei- bis dreimal in der Woche erschossen, morgens zwischen fünf und sieben, mitunter in alphabetischer Reihenfolge, manchmal auch willkürlich. Die Namen der Delinquenten kamen aus Berlin; Ritt hatte jeweils auf der Liste gefehlt, wodurch er von allen Insassen – Zufall oder Regie – sein Todesurteil am längsten überlebte. Er wartete auf den Tod und setzte auf die Flucht, während man im Morgengrauen andere holte. Es war kein Trost; er starb jedesmal mit, ohne von fiebernder Angst und törichter Hoffnung erlöst zu werden.
Vor ein paar Tagen waren zwei Gefangene ausgebrochen. Ein dritter Häftling, Pfarrer im Zivilberuf, hatte von der Flucht gewußt; Mitwissen erschien dem neuen Kommandanten ein Grund, ihn mitzuhängen. Zur Abschreckung hatte er die »verschärfte Vollstreckung« des Todesurteils befohlen.
Alle Bewacher und alle Gefangenen mußten jetzt zusehen, wie die drei mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen auf die Küchenbaracke zugetrieben wurden, wo sich die Exekution vollzog.
Die drei Häftlinge starben an einem Seil; es hing zwischen einem Baum und einem Balken in mäßiger Höhe, so daß einer von ihnen mit den Zehenspitzen jeweils kurz die Erde berührte, gerade lange genug, um einzuatmen, um schauerlich zu schreien, um den Tod zu verlängern. Dann wurde der Delinquent wieder hochgezogen, zugunsten der beiden anderen, die auch nicht schneller sterben sollten.
Die Bewacher konnten die grausame Prozedur oft selbst nicht mit ansehen, aber sie stießen befehlsgemäß Häftlingen, die wegsehen wollten, den Gewehrkolben in den Rücken. Im Halbkreis um den Galgen gestellt, sahen die Gefangenen schweigend in die roten, aufgedunsenen Gesichter mit den verdrehten, verquollenen Augen. Sie hörten die Schreie ihrer Kameraden und wurden selbst vom Grauen gewürgt.
Am leichtesten hatte es der mittlere Delinquent. Er war kleiner und wog weniger, und so starb er zuerst. Das Gewicht der beiden anderen zog ihn hoch. Sein Gesicht wurde dunkelblau und hörte auf zu zucken; der Mann hing als toter Ballast zwischen den beiden, deren Fußspitzen einmal links und einmal rechts am Boden aufkamen, Sekunden nur, während derer sich die Schlinge um den Hals lockerte und die Qual des Todeskampfes verlängerte.
Die Schneidezähne grinsten weiß in den Gesichtern. Die Zunge schwoll in den offenen Mündern der Männer, die noch um ihr Leben kämpften und doch keine Chance mehr hatten. Dann war auch der Pfarrer tot. Die beiden Leichen hatten das Übergewicht und zogen den dritten erlösend nach oben. Während der endlosen Stunden, die die Gefangenen noch am Hinrichtungsplatz stehen mußten, bewegte nur noch der Wind die Toten.
Martin überstand noch viele Nächte, noch häufig kamen am Morgen die Schritte über den Gang, auf seine Zelle zu – und gingen weiter. Er erfuhr von dem Geheimbefehl, beim Durchbruch der Russen die Gefangenen zu erschießen, und er fand, daß alles besser war, als in der Strafanstalt das Ende abzuwarten.
Täglich rückte die Front näher. Die Amerikaner und Engländer, die längst Frankfurt genommen hatten, griffen aus der Luft in die Kämpfe im Osten ein. Der Kommandant ließ probehalber Alarm geben. Es entstand ein Durcheinander, weil die Bewacher annahmen, die Sowjets seien tatsächlich durchgebrochen. Entsetzt trieben sie Entsetzte aus den Zellen und kämpften gegen die Panik. Martin nutzte sie – während verzweifelter Zählappelle gelang ihm die Flucht.
Er kannte sein Risiko. Die drei Toten am Seil, in deren verzerrte Gesichter er gesehen hatte, schärften seine Sinne. Ein Wald versteckte ihn, eine alte Frau gab ihm zu essen. Er wartete ab.
Am 17. April 1945 begannen die Russen mit dem Sturm auf Berlin. Sie brachen bei Küstrin durch, wo sich Martin verborgen hielt. Aufgelöste, aufgeriebene, versprengte Divisionen deckten den Flüchtling. Mit stechenden Lungen, querfeld gejagt, von Ängsten gepeitscht, gehetzt, doch frei, versuchte Martin, sich weiter nach Süden durchzuschlagen.
Er kam bis Jüterbog, wo ihn russische Panzer vor die Wahl stellten, in sowjetische Gefangenschaft zu fallen oder in die untergehende Reichshauptstadt zu fliehen. Er mochte die Roten nicht, weil er die Braunen haßte; er hatte für alle Zeiten genug von den Diktaturen aller Schattierungen; außerdem sagte ihm sein Instinkt, daß er in dem von den Russen belagerten Berlin untertauchen könne.
Er schloß sich einer Kolonne an, die in wilder Auflösung nach Berlin zurückflutete, um dort versorgt und als Kampfverband wieder aufgestellt