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versenkt. In tiefem Glück.

      Kintsugi | Hermann Moser

      Blaue Scherben. Goldener Kitt. Eine Teeschale. Der Chef betastete die einstigen Bruchstellen, die wie schmale Täler durch eine Landschaft verliefen. Die goldene Farbe machte den Defekt zur Zierde.

      »Das gefällt mir. Die Schale ist wunderschön, weil sie einmal zerbrochen war. Danke, Nyoko! Im Land deiner Mutter gibt es viele interessante Dinge.«

      Eigentlich legte der Chef keinen großen Wert darauf, gefeiert zu werden. Aber der Geburtstag brachte auch mit sich, dass seine Mitarbeiterin Nyoko Binder von der Verbrecherjagd abgelenkt war. Er bekam eine Verschnaufpause vom Arbeitseifer seiner hoch talentierten, aber stressigen Mitarbeiterin, die stets sogar ihren Vorgesetzten vor sich hertrieb und ihm dennoch wie eine Tochter ans Herz gewachsen war.

      Nyoko küsste ihn auf beide Wangen. »Alles Gute! Diese Kunst aus Japan heißt Kintsugi und ist ein Ausdruck von Wabi-Sabi, der Wahrnehmung der Schönheit.«

      »Hat dich der Wandkalender in meinem Büro zu diesem Geschenk inspiriert?«

      Sie freute sich, dass er den Gedanken erkannt hatte. »Ja, die Bilder von den verlassenen Gebäuden sind sehr schön. Ich hole ihn …«

      Der Chef wollte sie noch aufhalten. Er befürchtete, dass der Kalender Prozesse in Gang setzen würde, die seine Ruhe an diesem Tag gefährdeten, doch sie war zu schnell.

      Als Nyoko zurückkam, betrat Klaus Zimmermann, der Leiter der Spurensicherung, das Büro. »Meine herzlichsten Glückwünsche, alter Mann!« Er bemerkte den Kalender in Nyokos Hand. »Wollt ihr den alten Selbstmordfall wieder aufrollen?« Der Chef versuchte noch, ihn mit einem dezenten Fußtritt zu bremsen, doch es war zu spät. Nyokos Augen blitzten auf. Ein ungelöstes Rätsel. Ihr Blick fokussierte sich und zeigte jene Entschlossenheit, die keine Ruhe geben würde, bis der Fall geklärt war.

      »Was hat dieser Kalender mit einem Selbstmord zu tun? Wollt ihr mir eine Geschichte erzählen?«

      Der Chef stöhnte. »Nyoko, das war vor langer Zeit.«

      »Dennoch gibt es anscheinend etwas, das man wieder aufrollen kann. Ich will den Fall lösen.«

      Das war es dann wohl mit dem ruhigen Geburtstag. Der Gefeierte schöpfte noch einmal kurz Hoffnung, als sein Mitarbeiter Johann Sturmaier das Büro betrat. Der war nicht nur Kriminalpolizist, sondern auch Leiter der Polizeiblasmusik und trug an diesem Tag die Kapellmeisteruniform. »Alles Gute, lieber Chef! Ich schenke dir heute etwas, das sonst nur hohe Offiziere und der Minister bekommen. Wir spielen ein Ständchen für dich.«

      Nicht einmal die Musikkapelle konnte Nyoko bremsen: »Wann soll der Auftritt stattfinden?«

      Johann sah auf seine Uhr.

      »In zwei Stunden.«

      »Dann haben wir noch etwas Zeit für den Selbstmord. Was war damals los?«

      Klaus schaute zum Chef und bekam einen resignierten Blick als Antwort. »Den Selbstmord hat vor etwa acht Jahren ein Mann namens Franz Röhrling begangen. Er hatte einige Jahre davor den Bauernhof seiner Eltern in Pfaffingen im nördlichen Waldviertel geerbt. Den Betrieb hat er aufgegeben, um in einer Fabrik in Wien zu arbeiten. Die ist später auch geschlossen worden. Er ist danach zum Hof gefahren und hat sich im Stall erhängt. Das Landeskriminalamt Niederösterreich hat uns um Assistenz gebeten, da der Tote zuletzt hier in Wien gelebt hatte. Wir haben seine Wohnung durchsucht und Menschen in seinem Umfeld befragt. Dabei haben sich keine Beweise ergeben, die gegen einen Suizid gesprochen hätten. Der Fall ist daher von den Niederösterreichern als solcher abgeschlossen worden.«

      »Beweise habt ihr keine gefunden, aber ich höre zwischen den Zeilen, dass doch einige Indizien dagegen gesprochen haben. Ihr glaubt nicht der offiziellen Version?«

      »Na ja, es war eine klassische Situation. Röhrling hat sich auf einen Stuhl gestellt, den Hals in die Schlinge gelegt und dann den Stuhl weggestoßen. Ich habe mir die Tatortfotos angeschaut, und so wie der Stuhl dort zu sehen war, ist es physikalisch schwer vorstellbar. Den könnte aber auch jemand am Tatort verrückt haben, was natürlich niemand zugeben würde.«

      »Warum haben die Niederösterreicher eure Assistenz angefordert? Wenn es für sie ein eindeutiger Suizid war, hätten sie das vermerkt und den Fall abgeschlossen, ohne groß in der Wohnung und bei Bekannten zu ermitteln.«

      »So klar war es nicht. Die Kollegen haben sich wegen der fehlenden Schlüssel in zwei Fraktionen gespalten und sehr emotionale Diskussionen geführt. Inoffiziell sind wir sozusagen als Schiedsrichter zugezogen worden, aber es gab einfach keine Beweise für einen vorgetäuschten Selbstmord.«

      »Klaus, ich kenne dein Gespür, mit dem du aus winzigen Spurendetails die Abläufe am Tatort rekonstruierst. Wenn für dich etwas unschlüssig ist, glaube ich es ohne wissenschaftlichen Beweis. Was war mit den Schlüsseln?«

      »Er hatte keine bei sich, obwohl er mit seinem Touareg hingefahren ist.«

      »Das ist aber ein teures Auto für einen arbeitslosen Fabrikarbeiter. Sind seine Vermögensverhältnisse geprüft worden?«

      »Es hat keine Auffälligkeiten gegeben, ist aber nicht sehr intensiv angeschaut worden. Die Anhänger der Selbstmordthese haben sich dann doch durchgesetzt.«

      Nyoko blickte zu ihrem Chef. »Das tut mir leid! Ich habe mir fest vorgenommen, dir an deinem Geburtstag keinen Stress zu machen, aber die Geschichte stinkt zum Himmel. Ich habe keine ruhige Minute, bis das geklärt ist. Du kannst dich zurücklehnen, ich kümmere mich darum.« Sie nahm den Kalender in die Hand. »Was hat eigentlich dieses schöne Stück mit dem Fall zu tun?«

      »Der Fotokünstler Dominik Frandl veröffentlicht Kalender mit Bildern von verlassenen Gebäuden. Er hat damals wohl aus den Medien von dem Selbstmord im Stall des Bauernhofes erfahren und dabei gesehen, dass es sich um ein lohnendes Motiv handeln könnte. Seither kaufe ich jedes Jahr ein Exemplar.«

      »Hast du noch den von damals mit dem Stall?«

      Während Johann sich verabschiedete, um zur Musikkapelle zu gehen, holte der Chef den alten Kalender. Nyoko nahm ihn und betrachtete das Bild des Stalles. Durch die trüben Fenster fiel nur mattes Licht. Der Fotograf hatte ohne große Scheinwerfer die schön schaurige Stimmung eingefangen. Der Kalk bröckelte von den Wänden. Die aus dunklen Brettern gezimmerte Tür hing etwas schief in den rostigen Angeln. Nyoko glaubte beinahe, das Quietschen der Gelenke zu hören. Auf dem Boden lag noch lose verteiltes Stroh. Die Decke bestand aus langen Latten, die auf schweren Querbalken lagen. Etwas Licht drang durch die Ritzen zwischen den unregelmäßig geschnittenen Brettern. So ein Spalt musste auch Platz geboten haben, um einen Strick um den Balken zu binden.

      Nyoko ging zu ihrem Computer und suchte die elektronische Akte. Sie betrachtete Fotos desselben Raumes. Keine Poesie des Verfalls, sondern ein wissenschaftlich aufbereiteter Suizid. Hell erleuchtet. Einige Stellen waren mit Nummernschildern versehen. Am Deckenbalken hing Franz Röhrling. Das chemisch-giftgrüne Seil war offenbar eine neu gekaufte Kunstfaser. Auf jedem Bild befand sich rechts oben eine Aktennummer.

      Nyoko zoomte in das Foto. Röhrling war sportlich gekleidet. Auf dem Poloshirt sah sie das Logo einer Designermarke. Er trug eine teure Uhr. Nyoko erinnerte sich, dass Klaus seinen SUV erwähnt hatte. Sie klickte durch die Akten. Auch die Wohnung in Wien war sehr groß und schön. Er hatte dennoch keine Schulden gehabt. Wie war er zu dem Geld gekommen?

      Sie schaute zu ihrem Chef und Klaus auf. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum hat er seinen Hof nicht verkauft? Einen besonders sentimentalen Zug zur Landwirtschaft kann man ihm nicht nachsagen. Den Betrieb hat er aufgegeben und ist in eine Fabrik arbeiten gegangen. Er hat das Anwesen auch nicht gepflegt, um es zum Beispiel als Wochenendhaus zu nutzen. Dabei hatte er offenbar gar nicht so wenig Geld. Trotzdem ist er zu dem Ort, der ihm nicht sehr viel bedeutet hat, zurückgekehrt, um sich umzubringen. Warum? Ich sehe in den Unterlagen viele Scherben: ein verlassener Hof, Arbeitslosigkeit, Selbstmord. Wir müssen sie wieder zusammenkleben. Kintsugi ist nicht nur die Schönheit des Vergänglichen,

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