ТОП просматриваемых книг сайта:
Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
Читать онлайн.Название Flucht nach Mattingley Hall
Год выпуска 0
isbn 9783775175159
Автор произведения Nicola Vollkommer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Treppe schien endlos. Diesen Teil des Gebäudes kannte Jasmin nicht. Als Hubertus sie und ihren Vater zum ersten Mal in dem edlen Haus in der Mitte Londons herumgeführt hatte, waren sie nur im Erdgeschoss gewesen. Dass das Haus so viele Stockwerke hatte, war ihr damals gar nicht aufgefallen. Die Stimmen wurden lauter. Schließlich führte die Treppe nicht mehr weiter. Außer Atem stand Jasmin vor einer einfachen Holztür, hinter der zwei Männerstimmen nun deutlich zu hören waren. Die erste war ruhig und gefasst.
»Sie drohen also, mich zu entlassen, Sir?«
»Ich drohe mit gar nichts, Trentham!«
Jasmin hielt den Atem an. Das war die Stimme von Hubertus. Erregt, wütend, wie ein Zischen durch zusammengebissene Zähne. Einen Augenblick lang zweifelte sie, ob er es wirklich war. Sie kannte ihn bisher nur säuselnd, zärtlich, charmant.
»Mr Argyle, das war eine Drohung. Hoffentlich die letzte.«
Das war wieder die ruhige Stimme.
»Und wenn?«, war nun wieder eindeutig Hubertus zu hören. »Ich musste eine Blutlache umgehen, um heute Morgen die Tür dieses Gebäudes zu erreichen, Trentham! Und mich den neugierigen Fragen der Kommissare stellen. Wundert es Sie, dass ich erzürnt bin?«
»Es wundert mich, Sir. Sie wissen nichts, Sie ahnen nichts. Dass es sich vor unserem Haus ereignete, ist reiner Zufall, das geht Sie nichts an. Es ist erst dann ein Problem, wenn Sie eins draus machen.«
»In Ordnung, Trentham. Wie wäre es mit folgender Abmachung, damit sich dieser Fehltritt nicht wiederholt?«
Um welche Abmachung es sich handelte, verstand Jasmin nicht mehr. Hubertus’ Stimme war leiser geworden. Offensichtlich hatte er sich von seinem Gesprächspartner abgewandt und redete nicht mehr zur Tür hin. Sie bückte sich und drückte ihr Ohr ans Schlüsselloch. Nicht weil es sie auch nur im Geringsten interessiert hätte zu erfahren, über was die beiden Männer sich unterhielten, sondern weil sie mit sich rang, ob sie in den Raum einfach so hineinplatzen und Hubertus von ihrer Not erzählen konnte.
»Sie wollen mich also erpressen, Trentham! Aber denken Sie bloß nicht, dass die Verwandtschaft Ihrer Mutter zu Herrn Johnson Ihnen Sonderrechte gewährt, auch wenn dieser ein Gründungsmitglied von Argyle & Johnson war!«
Hubertus wieder, in voller Lautstärke. Er hatte sich offensichtlich wieder umgedreht.
»Ich Sie erpressen? Niemals. Ich führe nur meinen Auftrag aus, Sir. Ich plane meine Zukunft und schütze Ihr Vermächtnis.«
Mr Trentham war allem Anschein nach nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Nur, ich mache es nicht ohne eine angemessene Vergütung«, fuhr er fort. »Das wird für Sie keine Neuigkeit sein. Ich setze meine Sicherheit, meinen Ruf, meine Zukunft, sogar mein Gewissen aufs Spiel, und was bekomme ich dafür? Ein paar nutzlose Münzen. Während Sie Geld in schwindelerregender Höhe, um genau zu sein, Millionen scheffeln.«
Es war kurz still.
»Gut, Mr Trentham. Sie bekommen alles, was Sie wollen. Aber machen Sie bitte eine saubere Arbeit. Ein bisschen Gehirn schadet auch Ihnen nicht. Heute war es knapp. Das Letzte, was ich will, ist, dass meine Angestellten Angst bekommen. Verschwinden Sie jetzt bitte, und zwar schnell, bevor ich mich anders entscheide.«
Offensichtlich hatte Hubertus sich beruhigt. Jasmin richtete sich wieder auf und legte ihre Hand zaghaft an die Tür, um zu klopfen. Während sie noch zögerte, wurde die Tür von innen aufgemacht. Sie sah vor sich einen kleinen, untersetzten Mann, der zunächst im Türrahmen stehen blieb. Er sah Jasmin nicht gleich, weil sein Kopf in die andere Richtung gewandt war.
»Und vergessen Sie nie, Argyle: Ich bin nicht Ihr Kammerdiener. Noch sind Sie kein Lord.«
Er drehte sich um, stieß nun beinahe mit Jasmin zusammen und schrak zurück.
»Um Gottes willen, was in aller Welt …?«
Jasmin schob ihn beiseite und stolperte in den Raum hinein, während er mit einem Blick nach hinten die Treppe hinuntereilte. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch eine staubige Fensterscheibe in der Dachschräge schien ein mattes Licht auf Regale, die bis zur Decke mit Stapeln alter Zeitungen gefüllt waren. Eine Reihe von Tintenfässern stand auf einem Tisch unter dem Fenster. Es roch nach altem Papier. Ein abgetragener Teppich bedeckte den Boden und war im faden Licht gerade noch sichtbar. Er hatte ein orientalisches Muster in Farben, die offensichtlich bessere Zeiten gekannt hatten, jetzt aber verblichen und kaum voneinander zu unterscheiden waren. Alle Farben in dem Raum, die es einmal gegeben hatte, waren von einer staubigen, muffigen Luft verschluckt worden. Es war kein Grau im eigentlichen Sinne, es war eher die Abwesenheit von Farbe. Jasmins Blick schweifte durch den Raum, bis sie Hubertus’ lange Gestalt mit dem Rücken zu ihr vor einem der Regale erblickte.
»Was wollen Sie jetzt schon wieder, Trentham?«
Sein Ton war aufgebracht, nervös.
»Sie haben doch alles, was Sie wollten. Können Sie sich nicht damit begnügen?«
Als keine Antwort von Trentham kam, wirbelte er herum. Er wurde bleich, als er Jasmin in der Tür stehen sah. Er starrte sie an, als ob ein Gespenst aus dem Nichts erschienen wäre.
»Was um Gottes willen hast du hier zu suchen?«
Jasmin rang nach Worten.
»Ich … ich wollte dich sehen. Ich hatte so viel Angst, ich träumte wieder … ich sehnte mich … du hattest gesagt, dass ich …«
Weiter kam sie nicht. In ihrer Seele stießen zwei Welten gewaltsam aufeinander. Es wurde ihr schwindelig, ihre Knie wurden weich, sie hielt sich am Türrahmen fest. Wie oft war sie in den vergangenen Tagen in ihrer Fantasie auf ihn zugerannt, hatte sich in seine Arme geworfen, seinen festen Griff um ihren Körper gefühlt, seine Küsse in ihren Haaren, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht.
Plötzlich war alles klar. Natürlich freute er sich nicht, sie zu sehen. Er war ein viel beschäftigter, bedeutender Mann, offensichtlich mitten in weitreichenden Beratungen. Das hätte sie wissen können. Dieses ganze Unterfangen war nichts als ein Hirngespinst gewesen. Jetzt stand auf einmal ein Fremder vor ihr, fern, kalt, abweisend. Die Stille, die herrschte, war bedrückend. Sie hätte alles darum gegeben, im Boden versinken zu können. Das lange Schweigen fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Sie musste irgendetwas sagen, irgendetwas tun. Alles war erträglich, nur nicht diese lähmende Stille.
»Ich habe es gewusst, ich habe es gewusst, dass es so kommen würde!«, schrie sie, drehte sich um, raffte ihren Rock mit einer Hand hoch, stützte sich mit der anderen am Holzgeländer und flog die Treppe hinunter, zwei, drei Stufen mit jedem Sprung, rannte über die Marmorfliesen und hinaus auf die Straße. Sie musste an die frische Luft, ihre taumelnden Gedanken in den Griff bekommen, versuchen, nicht wahnsinnig zu werden, sich bemühen, den Gestank von Papier, Tinte und alten Zeitungen aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
Das Rumpeln von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster drang in das dunkle Chaos ihres Bewusstseins. Eine Mutter zog ihr schreiendes Kind an der Hand und schimpfte lautstark. Der Säugling, den sie unter ihren Arm geklemmt hielt, fing an, laut zu kreischen. Ein Spatz wusch sich in einer Pfütze in der Nähe der Treppe. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte das Wasser in der Pfütze einen rötlichen Schimmer? Die Schreie von Markthändlern, die ihre Waren in Leiterwagen einpackten und hofften, in letzter Minute doch noch Kundschaft zu gewinnen, waren in der Ferne zu hören.
Jasmin saugte die banalen Kleinigkeiten eines normalen Spätnachmittags in London in ihrer erschütterten Seele gierig auf. Alles war besser als die unheimliche Stille in dem Gebäude, das sie gerade verlassen hatte.
»Adam! Du bist es!«, rief sie erleichtert, als die Kutsche, die gerade an ihr vorbeifuhr, plötzlich anhielt und eine vertraute Gestalt vom Fahrersitz heruntersprang.
»Sie sind schon viel zu lange weg, Mylady, ich dachte, Sie sind froh, wenn Sie die