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nicht erinnern, einmal mit dem boulanger gesprochen zu haben, was er nun bedauerte. Lefèvres Augen standen offen. Docteur Obert wartete nicht erneut auf den Fotografen, sondern schloss sie mit zwei Fingern.

      »Ich kann den Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen. Aber es sind wohl eher sechs Stunden vergangen als zwei. Ich sehe auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen, aber wie gesagt: Ich melde mich.« Mit diesen Worten erhob er sich. »Ihnen allen«, er nickte in die Runde, »einen guten Tag. Meine Leute kommen in 20 Minuten, um ihn abzuholen. Es ist derzeit recht ruhig im Institut, Commissaire. Kommen Sie doch morgen vorbei, dann sollte ich mehr wissen.«

      Er verabschiedete sich formvollendet, dann schlenderte Docteur Obert so lässig hinaus, wie er fünf Minuten vorher hereingekommen war.

      Lacroix sah sich in der Backstube um, betrachtete die sauberen Arbeitsflächen, die Rühr- und Knetmaschine. Alles hier sah nach echter Handarbeit aus. Dann stutzte er.

      »Habe ich auch schon gesehen«, sagte Rio, die seinem Blick gefolgt war. »Vielleicht war der Gasmann doch nicht der Grund, warum er trotz Ruhetag hier war.«

      »Oder nicht ausschließlich«, sagte Lacroix und näherte sich der kleinen Ecke hinter den Arbeitsflächen, in der ein breiter Ohrensessel stand, daneben ein winziges Tischchen, auf dem ein alter Wälzer lag. Gedichte von Rimbaud, Gesamtausgabe. Daneben stand eine offene Cognacflasche, in einem Glas nur noch eine wässrige Lache.

      Der Commissaire besah sich die Flasche und pfiff leise durch die Zähne. Er kannte sich nicht sonderlich gut aus, aber dass sich der Bäckermeister zur Lektüre eine Flasche Hennessy No. 1 schmecken ließ, war nun doch außergewöhnlich. Wenn überhaupt, war dieser Cognac nur für echte Glücksritter zu bekommen, so selten gab es ihn zu erwerben, und dazu kostete eine Flasche in etwa so viel wie ein mittelalter Gebrauchtwagen.

      Lacroix beugte sich herab und roch am Glas. Cognac, ganz sicher.

      »Ich möchte …«, begann er, doch als er sich zu ihr umdrehte, sah er, dass Rio bereits angefangen hatte, die Ecke aus allen Perspektiven zu fotografieren. »Gut, Sie wissen Bescheid. Wann kommt Madame Lefèvre?«

      »Sie müsste jeden Moment hier sein«, sagte Paganelli, der von Rio ins Bild gesetzt worden war.

      Am Ende der Backstube war eine Tür, in die ein vergittertes Fenster eingelassen war. Lacroix öffnete sie und trat in den kleinen Hinterhof. Nach oben waren es vier Etagen, der Geruch von Hefe lag schwer in der kalten Luft. So ordentlich und geschrubbt die Backstube und der Verkaufsraum waren, so heruntergekommen war der Hof. Zwischen unzähligen Zigarettenkippen erkannte der Commissaire Rattenkot.

      Der Mann von Gaz de France, ein kleiner dicker Mittfünfziger in einem blauen Overall, saß auf einer niedrigen Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Er blickte auf und sah den Commissaire aus blutunterlaufenen Augen an.

      »So was wünscht sich keiner, das sag ich Ihnen aber«, sagte er und klang, als sei er es gewesen, der dem Cognac zugesprochen hatte. »Ich habe schon einiges gesehen«, fuhr der Mann fort. »Einmal habe ich eine alte Frau gefunden, die schon ein paar Wochen hinter ihrer Tür gelegen hatte. Der Hausmeister hatte mir den Schlüssel gegeben. Aber das hier …«, er stockte, »das hat mich echt umgehauen. Wie der da lag … Mir war gleich klar, dass der nicht mehr ist.«

      »Wann waren Sie hier?«

      »Um Punkt acht. Ich halte meine Termine ein.«

      »Vorn war abgeschlossen?«

      Der Mann nickte. »Ja, ich bin mit dem Türcode rein. Ich hatte ja Termine in allen Wohnungen, wollte aber zuerst zu Monsieur Lefèvre. Ich habe erst an der Hintertür geklopft, dann habe ich durch das Fenster gesehen und dachte, mich trifft der Schlag. Das war …«

      »Kannten Sie Monsieur Lefèvre?«

      Wieder nickte der Gasmann. »Ein ganz feiner Kerl. Ein echter Handwerker. Gibt’s ja beinahe nicht mehr, heute, wo die Algerier denken, sie könnten französisches Brot backen. Können Sie vergessen, den Mist. Die Kruste der Baguettes vom alten Lefèvre, die war einmalig. Nein, der war ein Mann von echtem Schrot und Korn. Mir hat er immer ein tradi geschenkt. Der wusste, wer ein echter Kollege war. Wir Handwerker halten zusammen.« Er hielt einen Moment inne. »Ist wirklich schade um ihn, so ein feiner Mann.«

      »Haben Sie jemanden gesehen? Im Laden oder im Hof?«

      »Niemanden«, sagte der Gasmann kopfschüttelnd.

      »Gut«, sagte Lacroix und hob den Kopf, um die Etagen zu taxieren. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich bitte im Kommissariat im Fünften. Einen guten Tag.«

      Er wollte zurück in die Backstube gehen, doch etwas hielt ihn auf. Er drehte sich noch mal um.

      »Wie lange kennen Sie Monsieur Lefèvre schon?«

      Der Mann richtete sich auf. »Ich betreue diesen Bezirk seit 25 Jahren. So lange kenne ich auch Monsieur Lefèvre. Es war die Zeit, als er den Laden von seinem Vater übernommen hat.«

      »Wissen Sie, ob er Probleme hatte? Feinde?«

      »Commissaire, ich bin zweimal im Jahr für eine halbe Stunde bei meinen Kunden, höchstens. Woher soll ich denn wissen … Ich habe ihn immer als Mann mit Format wahrgenommen. Ich bin wirklich geschockt, ihn da liegen zu sehen, das wird mich in meine Träume verfolgen, glauben Sie mir.«

      Lacroix ging in die Bäckerei zurück. Rio und Paganelli standen schweigend neben der Leiche, die gerade in einen metallenen Sarg gehoben wurde.

      »Capitaine«, sagte Lacroix leise, und Rio trat einen Schritt näher.

      »Bitte befragen Sie die Nachbarn. Hier und im Haus nebenan. Vielleicht ist irgendjemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen, vielleicht wurde jemand aus dem Schlaf gerissen. Fragen Sie die Leute, was in der Nacht los war. Sie haben Docteur Obert gehört, das Opfer ist schon eine Weile tot. Wir sehen uns später im Kommissariat, ich werde draußen auf Madame Lefèvre warten.«

      Sie nickte, und Lacroix verließ die Bäckerei, ging auf dem Gehsteig auf und ab, aber er musste nicht lange warten. Von ganz hinten, aus Richtung des Boulevards, eilte eine Frau auf ihn zu. Sie war groß und kräftig, eine herbe Schönheit, ihr Gesicht war voll und rot. Gesund und kräftig sah sie aus, dachte Lacroix.

      Er stellte sich ihr in den Weg, sie sollte keine Gelegenheit haben, im Laden die Schrecken der vergangenen Stunden zu sehen.

      »Madame Lefèvre?«, fragte er, obwohl er keinen Zweifel hatte. »Mein Name ist Commissaire Lacroix von der Police nationale. Ich würde Sie gern auf einen café einladen, vielleicht gehen wir ein Stück.«

      »Was ist denn passiert?«, fragte sie, während sie versuchte, an ihm vorbei in den Laden zu schauen.

      »Kommen Sie«, Lacroix führte sie ein Stück die Straße hinab. »Gehen wir hier hinein«, sagte er und öffnete die Tür zum La Palette. Er hätte auch mit ihr ins Chai gehen können, das nur wenige Meter entfernt lag, aber er wollte die Witwe eines Mordopfers nicht in sein Stammlokal führen, wo er von allen begrüßt worden wäre. Er bemerkte, dass die Frau vermied, ihn anzusehen, selbst als sie ihm gegenüber Platz nahm. Er verstand sie. Die Menschen wussten, dass er selten gute Nachrichten brachte, spürten meist gleich, dass etwas nicht stimmte.

      »Monsieur, deux cafés, s’il vous plaît«, rief er in Richtung Bar, und als der Mann hinter dem Zinktresen nickte, beugte Lacroix sich ein Stück vor, um leiser sprechen zu können.

      »Madame Lefèvre, ich habe leider eine schreckliche Nachricht für Sie. Ihr Mann wurde in der vergangenen Nacht erschlagen. Ein Zeuge hat ihn heute Morgen in der Backstube gefunden, und wir sind uns sicher, dass Monsieur Lefèvre getötet wurde.«

      Ihr Gesicht wurde noch röter, sie war ganz und gar starr, dann erhob sie sich schwerfällig, ohne ihn anzusehen. Lacroix hatte Angst, dass sie zusammenbrechen würde, doch sie blieb nur kurz vor dem roten Ledersessel stehen und fing dann an, im Café auf und ab zu gehen, den Blick gesenkt. Er sah ihre Augen nicht, sah nicht, ob sie weinte. Als sie sich umwandte, bemerkte er, wie sich unablässig ihre Lippen bewegten, als murmele sie etwas.

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