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du bist vollkommen verrückt.“

      Bertel sah Pil ein wenig verwundert an.

      „Er ist wahnsinnig.“

      „Er ist wirklich unglaublich wahnsinnig.“

      „Das sehe ich als ein Kompliment“, sagte Max.

      „Da würde ich mir nicht so sicher sein, dass das auch so gemeint ist. Woher kommst du eigentlich?“

      „Meinst du geographisch? Ich bin in Aarhus geboren.“

      „War ja klar! Nur ein Jütländer kann so eine Scheiße von sich geben.“

      „Findest du nicht, dass das ein schöner Gedanke ist?“

      „Nein, wirklich nicht. Dass ich auf einer Tribüne stehen soll … splitterfasernackt und mich wie Hitler aufführen soll …?“

      „Ja.“

      „Das ist ganz sicher kein schöner Gedanke.“

      „Nein? Aber das Beste kommt erst noch“, sagte Max.

      „Kann das noch besser werden?“ fragte Pil ironisch.

      „Ja. Aber dazu musst du erst die Augen schließen.“

      Bertel warf Pil einen skeptischen Blick zu. Sie zog eine ungläubige Grimasse.

      „Was jetzt?“

      „Nichts. Schließt einfach die Augen. Ich werde euch schon nichts tun. Ich schwöre.“

      „Na gut … dann lass uns mal hören“, sagte Pil und ließ ihren Blick über Max’ Körper gleiten, worauf sie ihr Kinn anhob und ihre Augen schloss. Bertel zögerte kurz, entschloss sich aber es ihr gleichzutun um dem Ganzen eine Chance zu geben.

      „Gut! Und jetzt zählt langsam von zehn runter“, sagte Max.

      „Zehn, neun“, begannen die beiden zu zählen: „Acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins!“

      Als sie die Augen öffneten, war der Fremde verschwunden.

      „Er ist abgehauen!“, rief Bertel. „Der Idiot ist abgehauen.“

      „Na klar“, sagte Pil. „Er wollte uns verarschen.“

      „Nein, eigentlich hat er das nicht gemacht – eigentlich haben wir ihn verarscht.“

      „Wie jetzt?“

      „Jep“, sagte Bertel und fischte einen braunen Geldbeutel aus seiner Hosentasche.

      „Was ist das?“

      „Sein Geldbeutel.“

      „Du hast ihm die Brieftasche geklaut?“, schrie Pil. „Was zur Hölle …“ Sie riss ihm den Geldbeutel aus der Hand und starrte ihn empört an.

      „Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?!“ fauchte sie, schob ihn zur Seite und verschwand durch die Tür.

      Sie drehte sich in alle Richtungen, doch die Gasse war dunkel und menschenleer. Auch auf der angrenzenden Nørrebrostraße war keine Spur mehr von ihm zu sehen.

      „Mist“, flüsterte sie.

      Einen Augenblick lang studierte sie die Brieftasche. Es war ein brauner Lederbeutel der Marke Tony Perotti. Dick und sicher nicht ganz billig. Pil merkte den Ärger über Bertel in ihr hochsteigen; sie hatte schon immer einen starken Sinn für Gerechtigkeit gehabt und hatte sich schon oft in Schwierigkeiten mit radikalen Kräften der autonomen Szene gebracht. Es war nicht ihr Ziel für Radau zu sorgen – es war ihre Absicht eine Balance zu schaffen. Konsequent hielt sie von allen aggressiven und brutalen Methoden im Kampf um eine bessere Gesellschaft Abstand.

      Sie begutachtete die Karten in der Brieftasche. Der Mann hieß Max Wiland und seiner Krankenversicherungskarte zufolge, wohnte er am Solitudeweg, der nur eine Gasse entfernt von hier lag. Sie beschloss sich sofort auf den Weg dorthin zu machen, um den Geldbeutel zurückzubringen.

      Doch als sie dann vor seinem Haus stand und in das Licht hinaufblickte, das von seiner Wohnung stammen musste, war da etwas, das sie von ihrem Vorhaben abhielt.

      Sie knetete am weichen Leder der Geldbörse, während sie den Anblick seines Besitzers Max gedanklich heraufbeschwor. Er muss um die vierzig Jahre alt gewesen sein, fast doppelt so alt wie sie selbst. Er war nicht besonders attraktiv; aber auch nicht besonders unattraktiv. Er hatte einen intensiven Blick – hatte direkt in sie hineingesehen. Vielleicht hatte sie deshalb so gehorsam ihre Augen geschlossen.

      Was sollte sie nun tun? Sie hätte einfach läuten und die Brieftasche zurückbringen können. Dann wäre die ganze Sache überstanden gewesen und sie hätte ihn vermutlich nie wieder gesehen. Außer natürlich, wenn er sie hinein gebeten hätte. Aber warum sollte er das tun? Sie hatten ihn einen Faschisten genannt, ihn provoziert. Und nicht zuletzt hatten sie ihm seinen Geldbeutel gestohlen. Sie könnte vielleicht lügen und ihm erzählen, er hätte den Beutel verloren, als er ging. Aber trotzdem. Und warum wünschte sie sich überhaupt von ihm hineingebeten zu werden, warum kam dieser Gedanke in ihr hoch?

      Sie hätte einfach hinaufgehen und die ganze Sache hinter sich bringen können. Aber sie hätte auch eine Weile warten können, bis morgen zumindest, bis alles ein bisschen klarer aussah, denn in diesem Augenblick befand sie sich in einer dunklen Gasse in Nørrebro, einem Stadtteil von Kopenhagen, und ihre Gedanken verwandelten sich allmählich in verschwommene Skizzen.

      Sie ging zurück zur Hauptstraße. Es war kalt und sie beschloss direkt nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen. Es war weit nach Mitternacht.

      Als sie später in ihrem Bett lag, nahm sie die Geldbörse und ließ in der Dunkelheit sanft ihre Finger darüber gleiten. Der Duft des fremden Leders hatte eine aphrodisierende Wirkung auf sie und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie die Brieftasche abgeben würde.

      Sie läutete und erklärte über die Türsprechanlage ihr Anliegen.

      „Komm rein!“, ertönte seine Stimme, die sie trotz der Verzerrung des Lautsprechers sofort wiedererkannte.

      Schon auf dem Weg nach oben war sie angespannt.

      Als sie vor seiner Wohnung ankam, war die Tür bereits einen Spalt geöffnet. Vorsichtig klopfte sie an und trat in einen kleinen Vorraum. Ein langer Gang führte zu einem beleuchteten Zimmer am anderen Ende der Wohnung.

      Direkt vor dem Eingang hing ein Spiegel, und als sie daran vorbeiging, bemerkte sie, dass sie sich verändert hatte. Sie war zwanzig Jahre älter geworden – immer noch sich selbst, nur, dass sie kein junges Mädchen mehr war. An den Augen formten sich kleine Fältchen zu einem fein ziselierten Delta, ihre Wangen waren weniger fest. Eine neue Art der Schönheit hatte sich in ihrem Gesicht breit gemacht, die Süße ihrer Jugend war verflogen und hatte sich in reife Klarheit verwandelt; ein kräftiges Leuchten, wie sie selbst fand.

      Sie ging den Gang entlang und trat in die kleine Stube. Er saß an einem kleinen Esstisch. Auch er hatte sich verändert. Er war entsprechend jünger; am Tisch saß also ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren. Es bestand jedoch kein Zweifel daran, dass es er war, denn er hatte den gleichen Blick, den gleichen Ausdruck auf seinen Lippen. Sie kam näher, legte den Geldbeutel auf den Tisch und wiederholte, was sie kurz zuvor in die Gegensprechanlage gesagt hatte: „Du hast gestern deine Brieftasche verloren.“

      „Danke“, sagte er. „Nett von dir!“ Er öffnete sie und kontrollierte, ob alles so war, wie es sein sollte.

      „Keine Sorge“, sagte sie. „Ich habe nichts herausgenommen.“

      Er lächelte und stand auf.

      „Darf ich dir etwas anbieten? … Als Dankeschön. Etwas zu trinken vielleicht?“

      Sie ließ ihren Blick über eine dunkelblaue Vitrine schweifen, wo eine Reihe Flaschen stand.

      „Ja gerne“, sagte sie. „Ich hätte gerne etwas von der dort drüben.“ Sie ging zu der Vitrine und zeigte auf eine lange, dünne Flasche mit einer grünen Flüssigkeit.

      „Absinth?“,

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