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Vergleich mit J. R. R. Tolkien

      Der vielleicht auffallendste Zug von Endes bekanntestem Werk Die unendliche Geschichte ist die Tatsache, daß dieser Roman sich auf vielfältige Weise selbst zum Thema hat. Immer wieder schlägt die Handlung reflexive Bögen, die geeignet sind, den aufmerksamen Leser sowohl zu verwirren als auch zu faszinieren. Von der Literaturkritik hingegen wurde dieser reflexive Charakter der Unendlichen Geschichte, der den Roman innerhalb des Genres Fantasy so unverwechselbar macht, erstaunlicherweise fast völlig ignoriert, wofür vor allem die allzu rasche Parallelisierung Endes mit dem »Gründervater« der modernen Fantasy, dem Briten J. R. R. Tolkien, verantwortlich sein dürfte. Der Geschichte dieses Mißverständnisses, dessen Folgen tief in die sogenannte Eskapismus-Debatte hineinreichen (vgl. oben Abschnitt B.1), soll hier in aller gebotenen Kürze nachgegangen werden, um die Reflexivität in Endes Werk, gerade im Vergleich zu Tolkien, umso deutlicher herauszustellen.

      imageKurzer Exkurs zu J. R. R. Tolkien90

      Das Werk des englischen Literaturprofessors und Sprachwissenschaftlers J(ohn) R(onald) R(euel) Tolkien (1889–1973) stellt sowohl Beginn als auch Höhepunkt der modernen Fantasyliteratur dar. Galten seine beiden Romane The Hobbit (1937) und The Lord of the Rings (1954/55) schon zu Lebzeiten des Autors als Meisterwerke fantastischer Erzählkunst, so brachte schließlich die Veröffentlichung des Nachlasses (The Silmarillion 1977, Unfinished Tales from Númenor and Middle-Earth 1980) durch Tolkiens Sohn Christopher die epochalen Dimensionen der zugrundeliegenden Konzeption ans Licht, welche eine komplexe Mythologie, mehrere bis ins Detail ausgearbeitete fiktionale Sprachen sowie eine Reihe weiterer Erfindungen in Bereichen wie Botanik oder Mineralogie umfaßt. Nicht ohne Grund wurde Tolkiens »außerordentlich kreative[r] Geist« (Karen Wynn Fonstad91) von Lesern und Kritikern (sowie zahlreichen minder begabten Epigonen) bewundert; was aber sein Werk innerhalb der phantastischen Literatur tatsächlich einzigartig macht, sind jene Konsequenz und Akribie, mit der er seine Einfälle harmonisch in die Struktur seines selbstgeschaffenen Kosmos einzuordnen verstand. Zwar handelt es sich bei Tolkiens Schöpfung Mittelerde nicht, wie oft angenommen, um eine fiktive »Parallelwelt«;92 dennoch sah sich der Autor, gerade wegen der Perfektion seines Werkes, massiv mit dem Verdacht konfrontiert, er betreibe eine Art literarischer Weltflucht.93 Tolkiens Reaktion auf diese Kritik war es, den eskapistischen Charakter seiner Bücher offen zuzugeben, gleichzeitig aber den negativen Fluchtbegriff der Kritiker zu hinterfragen.94

      imageDie Geschichte eines Mißverständnisses

      Wie kam es zur Parallelisierung Endes mit dem Begründer der modernen Fantasy? Unter den ersten Rezensionen zur Unendlichen Geschichte finden wir jenen Artikel der Zeit über das Werk des »deutschen Tolkien«, in dem Jürgen Lodemann, offenbar vom eigenen Vergleich überwältigt, seiner Hochachtung »vor einem, der seinen Einfallsreichtum jederzeit […] diszipliniert in der Schreibhand hat und seine Geschichte folgerichtig zum offenen Schluß_bringt«,95 Ausdruck verleiht. Nicht zuletzt diese euphorische Kritik, die den Kern der Unendlichen Geschichte mit fast bewundernswerter Konsequenz verfehlt, verleitete offenbar Heerscharen späterer Interpreten, Endes Verwandtschaft mit Tolkien zu überschätzen und seinen Roman ebenso frag- wie nahtlos ins Genre der modernen Fantasy einzuordnen.96 Den Ansatz hierzu liefert indes die Unendliche Geschichte selbst, in der Tolkien (als einziger Dichter neben Shakespeare97) wiederholt und nicht ohne Augenzwinkern zitiert wird: Das schaurige Reich Morgul etwa finden wir im Herrn der Ringe als Stadt der Ringgeister wieder; sein Bewohner, der Drache Smärg (UG 266), ist offenbar ein naher Verwandter von Smaug aus dem Hobbit. Später war Ende hingegen merklich um Abgrenzung bemüht. So antwortete er bei einer Podiumsdiskussion mit Joseph Beuys auf dessen Frage, ob die Tolkien-Lektüre sein eigenes Werk beeinflußt habe:

      »Tolkien nicht so sehr. Tolkien habe ich als Schmökervergnügen gelesen. Mit Vergnügen, wie ich zugeben will.«98

      Diese Distanzierung änderte freilich nichts mehr daran, daß derselbe Vorwurf des Eskapismus, dem sich Tolkien jahrzehntelang ausgesetzt sah, nun auch Ende traf, wobei der spezifische Charakter seines Werkes schlichtweg übersehen wurde. Zwei Beispiele hierfür seien in aller gebotenen Kürze angeführt. Winfred Kaminski, der in seiner »Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur« (1987) fantastische Literatur ganz allgemein verdächtigt, sie bezwecke »nichts anderes […] als ein Einlullen in irrationale Traumwelten«,99 stellt unter dem Titel »Auswege in eine andere Wirklichkeit«100 Die unendliche Geschichte als einen besonders drastischen Fall solch literarischer Realitätsflucht dar. Sein Angriff auf Ende gipfelt in dem Urteil:

      Endes Texte tendieren […] zur Stabilisation der Krisenlage, weil sie Kompensationsangebote machen. Seine Ideen sind nicht etwa Komplement der schlechten Wirklichkeit, sondern deren phantastische Fortsetzung.101

      Vier Jahre später veröffentlicht Heidi Aschenberg im Rahmen einer Untersuchung von »Eigennamen im Kinderbuch« ihre persönliche Abrechnung mit der Unendlichen Geschichte. Abgesehen davon, daß sie hierbei nicht zwischen dem Roman selbst und der ihn grob verzerrenden filmischen Adaption unterscheidet, was ihrer Kritik polemische Züge verleiht,102 schlägt Aschenberg in eine ganz ähnliche Kerbe wie Kaminski: Endes Werk fördere ein »unbedingtes Akzeptieren des Status quo in der ›Versöhnung‹ von phantastischer und wirklicher Welt«,103 anstatt doch den Leser zur »Überwindung der Unzulänglichkeiten der letzteren durch bewußtes und selbstbewußtes Handeln«104 anzuhalten.

      Diese und vergleichbare Kritiken sind insofern bemerkenswert, als sie einen prägnanten Beweis für die Macht des Vorurteils über das menschliche Denken erbringen. Verleitet vermutlich durch die Assoziationskette Tolkien – Fantasy – Eskapismus (sowie die Erinnerung daran, daß bereits Endes Erstlingswerk Jim Knopf ins Visier »realistischer« Kritiker geriet105), übersehen Kaminski und Aschenberg völlig, daß die Gefahren jenes »Auswegs in eine andere Wirklichkeit« ein zentrales Motiv des von ihnen gegeißelten Werkes darstellen: Thematisiert nicht Ende ganze vierzehn Kapitel lang (mehr als die Hälfte des Romans!) die trughafte Verlockung, sich in Phantásien zu verlieren, bis schließlich der Rückweg in die »Menschenwelt« für immer versperrt ist? Stellt nicht die Schilderung jener Geisteskranken in der »Alten Kaiser Stadt«, denen ebendies widerfahren ist, die mit Abstand bedrückendste, ja schaurigste Szene des gesamten Buches dar? Und »versöhnt« sich nicht der diesem Schicksal um Haaresbreite entkommene Bastian, ganz als habe er Aschenbergs Kritik bereits im vorhinein gelesen, mit seiner »wirklichen Welt« schließlich durch »bewußtes und selbstbewußtes Handeln«, das ihre »Unzulänglichkeiten überwindet«? Wer solcherart den reflexiven Charakter von Endes fantastischer Erzählung außer acht läßt, die ebenso nach den Gefahren jener »Flucht ins Fantastische« wie den Möglichkeiten der Befruchtung des »Realen« durch das Imaginäre, kurzum: nach der Stellung von »Phantasie« zu »Wirklichkeit« schlechthin fragt, dem entgeht der wesentliche Teil des Romans. So aber geraten nicht nur abwertende, sondern auch positive Rezensionen wie jene Lodemanns unweigerlich auf eine schiefe Ebene: Als bloßer Fantasyroman betrachtet, reichte Die unendliche Geschichte in Wahrheit ebensowenig an The Lord of the Rings heran, wie ein noch so liebevoll gezeichnetes Phantásien neben den elaborierten Feinstrukturen Mittelerdes bestehen könnte. Indes ist Endes Werk viel mehr als das, oder genauer gesagt: Es ist etwas völlig anderes.

      imageÜber den reflexiven Charakter der Unendlichen Geschichte

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