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ein Wagnis dar, bei dem es mehrere scharfe Klippen zu umschiffen gilt. »Authentischen«, aber belanglosen Deutungen, die sich kaum von der Bildlichkeit des jeweiligen Werkes entfernen, steht die Tendenz gegenüber, literarische Texte durch gewaltsame »Interpretation« in vorgefertigte (ideo)logische Schemata zu pressen. Gemein ist beiden Irrwegen indes, daß der wesenhafte Unterschied zwischen logisch-begrifflicher und poetischer Sprache von vorneherein nicht oder nicht genügend ernstgenommen wird.52 Wer das philosophische Denken eines Schriftstellers aus dessen Werk heraus zu ergründen sucht, sollte also stets gewahr bleiben, »daß Literatur keine Struktur aus Gedanken ist, sondern eine aus Bildern« (Vladimir Nabokov53). Dies bedeutet aber auch, daß die grundsätzliche Frage nach der Übersetzbarkeit von Literatur in Philosophie bereits vor dem eigentlichen Beginn einer Untersuchung wie der vorliegenden geklärt werden müßte.

      Indes ist es doch mehr als unwahrscheinlich, daß das uralte Problem des Verhältnisses vom Logos zum Mythos, von begrifflicher zu bildhafter Sprache im Rahmen dieser Einleitung zufriedenstellend gelöst werden kann. Vielmehr geht es im folgenden darum, eine tragfähige Basis für die vorliegende Untersuchung zu gewinnen, indem mögliche Einwände gegen Ziel oder Methodik derselben, die aus einer (nicht unberechtigten!) Skepsis gegenüber »Deutungen« von Literatur entspringen, thematisiert und beantwortet werden. Hierbei haben wir zuallererst zu klären, auf welche Weise eine »Übertragung« von Poesie in Philosophie mit dem Anspruch exakten wissenschaftlichen Arbeitens vereinbar sein kann. Erst dann gilt es unseren spezifischen Gegenstand, das Werk des Schriftstellers Michael Ende, genauer ins Auge zu fassen: Zeigen sich hier vielleicht besondere Gründe, die gegen den Versuch einer solchen Übertragung sprechen, und falls ja, wie sind sie zu werten? Da indes die vorliegende Untersuchung nicht die bloße Möglichkeit einer philosophischen Interpretation Endes, sondern sein eigenes philosophisches Denken zu ergründen sucht, hat sie noch weiter zu fragen: Welche Elemente birgt das Endesche Werk, die auf ein solches Denken hinweisen? Mehr noch: Inwiefern ist zu erwarten, daß sich die Grundthemen dieses Werkes, so es solche gibt, letztlich als philosophische herausstellen? All dies soll nicht zuletzt auch zur argumentativen Absicherung und zum besseren Verständnis der Grundfragestellung dieser Arbeit beitragen.

       1.Über die Möglichkeit einer philosophischen Interpretation poetischer Texte

      Im Gespräch mit Hanne Täschl und Erhard Eppler klagt Michael Ende:

      In unserem »verkopften« Jahrhundert dressiert man ja schon die Schulkinder im Umgang mit Literatur zu der Frage: Was wollte der Dichter uns sagen? Man sucht immerfort nach einer »Aussage«, nach einer »Botschaft«, nach einer »Lehre«, die der Autor dem Leser oder dem Zuschauer erteilt. Wenn man die herausdestilliert hat, dann – meint man – habe man die Sache verstanden. Damit wird alle Poesie zu einer Verpackungsfrage degradiert. Der Dichter verpackt seine »Botschaft« in poetische Formeln wie in ein hübsches Einwickelpapier, und der Leser oder Zuschauer muß es [sic] bloß wieder auswickeln.54

      Diese Kritik kann wohl jeder nachvollziehen, der selbst den oft lieblosen Umgang mit Literatur im Schulunterricht erlebt hat, welcher nicht wenigen die Lust am Lesen raubt und zu dem auch das tendenziell gewaltsame und schematische »Interpretieren« von Texten gehört. Bedenklich daran ist vor allem, wie frag- und scheinbar mühelos hier oft der Abgrund (um ein Diktum aus Celans Theorie der Übersetzung zu verwenden)55 zwischen poetischer und argumentativer Sprache überschritten wird, ohne sich mit der Suche nach einem gangbaren Steg aufzuhalten.

      Tatsächlich sind es zwei Prämissen, auf denen diese Art der Interpretation von poetischen Texten fußt. Erstens wird davon ausgegangen, daß eine strikte Trennung zwischen Inhalt und Form (»Botschaft« und »Verpackung«) eines literarischen Werkes möglich und sinnvoll sei; zweitens, daß es sich bei dieser um bloßes Beiwerk und Schmuck, bei jenem aber um das Eigentliche des Textes handle, das der Interpret daher herauszuarbeiten (»auszuwickeln«) habe. Beides ist freilich ausgesprochen fragwürdig, worauf nicht nur Ende nachdrücklich hingewiesen hat. Daniel Jones etwa schreibt in seiner Ausgabe der Lyrik des walisischen Dichters Dylan Thomas:

      […] wenn man versuchte, das Dichterische in andere Wörter zu »übersetzen«, es interpretierend in andere Gedanken zu fassen, dann wäre das so, als ob man die Umrisse einer Zeichnung begradigen und ihre Bedeutsamkeit durch das Ausmessen des Ergebnisses in Zoll vorführen würde.56

      Wie ist mit dieser Problematik umzugehen? Wenn wir nicht überhaupt auf jede Art gedanklicher Auseinandersetzung mit Literatur verzichten wollen, so gilt es, einen Pfad abseits von »Botschaften« und »Begradigungen« zu suchen; vor allem aber, uns der so naheliegenden wie selten gestellten Frage zuzuwenden: Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen argumentativer und poetischer Sprache?

      Eine mögliche Antwort wurde bereits angedeutet: Die eine vollzieht sich in abstrakten Begriffen, die andere hingegen in unmittelbarsinnlichen Bildern. Nun könnte man diesen Gegensatz, vom begrifflichen Denken aus, relativ leicht überbrücken, indem man letztere einfach als Metaphern versteht, die es entsprechend zu erschließen gilt. Die Aufgabe des Interpreten wäre in diesem Falle die der Abstraktion: Indem er den begrifflichen Kern aus dem poetischen Text herauslöst, hätte er diesen seiner Bildlichkeit zu entkleiden. So könnte er z. B. den Schlaf Dornröschens im gleichnamigen Märchen als ein Bild für Depression und die Dornenhecke als Symbol für die Abwehr von Hilfe erkennen, die Rettung durch den Prinzen hingegen als Metapher für die Möglichkeit der Heilung, usf.

      Es ist leicht zu sehen, daß wir hier bereits auf den Irrweg der »Botschaften« geraten sind. Was haben wir durch die »Übersetzung« etwa des Textelements Schlaf in De-pression (lat. »Niedergedrücktheit«) erreicht? Nicht nur, daß wir das Märchen banalisiert, trivialisiert und dadurch seines poetischen Zaubers beraubt haben, wir haben auch unser Ziel verfehlt: Wir sind jene Bildlichkeit, die wir zu entfernen glaubten, gar nicht losgeworden, sondern haben lediglich ein Bild durch ein anderes (vermutlich schwächeres) ersetzt. Mehr war uns schon deshalb nicht möglich, weil es eine von aller Metaphorik gereinigte Begrifflichkeit gar nicht gibt.57 Tatsächlich ist das bildliche, oder sagen wir besser und genauer: das sinnliche Element58 wesentlicher Bestandteil jeder menschlichen Sprache – der wissenschaftlichen genauso wie der poetischen. Begründet ist dies letztlich in den Strukturen unseres Bewußtseins selbst. Wie nämlich kein Leser das Märchen verstehen kann, ohne sich eine konkrete Dornenhecke vorzustellen, so kann auch der Mathematiker »keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen« (Immanuel Kant59). So setzt z. B. auch die entscheidende philosophische Frage nach dem Grund alles Endlichen bereits eine Leistung der Imagination voraus, für die stets auch ein sinnliches Element benötigt wird. Jeder Versuch, dieses abzuschütteln, etwa indem anstatt vom Grund vom Absoluten (lat. »das Abgelöste«) gesprochen wird, führt uns nur zu immer neuen Bildern.60

      Was poetische und argumentative Sprache wesenhaft trennt, ist also nicht einfach, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, die Sinnlichkeit der einen und gedankliche Abstraktheit der anderen. Daß etwa zwischen den Sätzen »Der Prinz überwand die Dornenhecke, um Dornröschen aus ihrem Schlaf zu erwecken« und »Das Endliche in seiner Relativität setzt einen absoluten Grund voraus« ein essentieller Unterschied besteht, ist indes offensichtlich. Was aber macht diesen Unterschied aus?

      Betrachten wir die angeführten Beispiele genauer, so fällt zunächst auf, daß die einzelnen Elemente des Märchens (der Prinz, die Hecke, Dornröschen, ihr hundertjähriger Schlaf) nicht einfach austauschbar sind. Wer aus der Dornenhecke einen Wassergraben macht, verändert das Märchen – und zwar wesentlich, da dieser als Vorstellungsinhalt schlicht andere Emotionen »transportiert« als jene. Ganz anders verhält es sich bei unserem zweiten Beispiel, wo keine Geschichte erzählt, sondern ein Urteil gefällt wird, das seinerseits einer logischen Begründung bedarf. Während so der argumentative Text seiner Struktur nach strikt an die Regeln der Logik gebunden bleibt, ist er in

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