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Mann geht nirgendwohin«, meldete sich Michael deutlich. »Wer ist er?«

      »Ein Auftrag«, gab Frost zurück.

      »Und was ist mit deinem anderen Auftrag? Wir wollen das Buch, Lydia.« Auf Michaels Worte und ein unsichtbares Zeichen hin zielten auf einmal vier Revolvermündungen auf Frost und Payne.

      Frost dachte fieberhaft nach. Sie musste Zeit schinden, bis ihr etwas einfiel, womit sie sich aus diesem Schlamassel ziehen konnte. Sie wollte das Buch nicht einfach so hergeben. Das Buch war ihre Versicherung dafür, selbstständig zu werden und ihre Freiheit von den Dragons zu behalten. Ob sie mit Michael verhandeln konnte, ohne die Anwesenheit von Madame Yueh? Er war nun immerhin einer der sieben Köpfe der Organisation.

      »Gib mir das Buch, Lydia, und wir alle können friedlich nach Hause gehen.« Michael machte einen Schritt auf Frost zu und streckte die Hand fordernd aus.

      »Ah, jetzt verstehe ich. Der Foliant gehört den Chinesen. Vielleicht sollten Sie es ihm wirklich geben.«

      »Halten Sie die Klappe, Payne«, fuhr Frost den Pinkerton an, doch ein Teil von ihr wusste bereits, dass es die einzige ihr verbliebene Möglichkeit war. »Michael, ich will mit Madame Yueh sprechen«, stieß sie hervor. Ein letzter, verzweifelter Versuch.

      Michael hob das Kinn. »Madame Yueh wird sich mit dir befassen, wenn sie es für angemessen hält.«

      Auf einmal wurde Frost klar, dass das alles keinen Sinn hatte. Madame Yueh hatte sie testen wollen, und sie, Frost, hatte den Test nicht bestanden. Man würde sie nicht gehen lassen. Sie war immer noch die Schlüsselmacherin. Die Frau, die wegen ihres mechanischen Herzens jedes Schloss öffnen konnte und für die Organisation zur besten Diebin der ganzen Stadt geworden war. Und nun, da Michael, der wie ein Bruder für sie war, als einer der sieben Bosse der Dragons fungierte, hatte man ihr eine zusätzliche Schlinge um den Hals gelegt.

      Mit bebenden Händen griff sie in ihre Tasche und holte den in Lappen gewickelte Folianten heraus. Er lag schwer in ihren Händen.

      »Frost«, wisperte Payne angespannt, »die werden uns erschießen, sobald sie das Buch übergeben.«

      »Nein, Mr. Payne«, gab sie ebenso angespannt zurück und reckte das Kinn. »Michael wird nicht so weit gehen.« Er wird nur dich erschießen, fügte sie in Gedanken grimmig hinzu. Dann atmete sie tief durch und streckte das Buch weit von sich. »Komm und hol es dir, Michael.«

      »Was haben Sie vor?«, raunte Payne, doch Frost gab ihm keine Antwort.

      Michael schien zu zögern. Dann gab er den vier Männern jeweils ein Signal und kam langsam auf Frost zu. Als er sie fast erreicht hatte und die Hand schon nach dem Buch ausstreckte, nahm einer der Männer Payne in den Schwitzkasten und ein zweiter hielt ihm die Revolvermündung an die Schläfe. Payne ächzte auf.

      Frost wankte kein bisschen und hielt Michaels Blick stand. Michael griff nach dem Buch, und ein Lächeln zuckte über Frosts Gesicht. Blitzschnell griff sie nach hinten und zog ihre eigene Waffe aus dem Gürtel. Der Kolben klickte, und sie zielte mit sicherer Hand direkt auf Michaels Herz.

      »Ah«, sagte Michael nur und lächelte.

      »Das Buch gehört dir«, sagte sie kühl. »Wenn du uns dafür laufen lässt.«

      »Dich vielleicht, ja, aber er hat zu viel gesehen, und er weiß zu viel.«

      »Oh, hast du etwa Angst, dass morgen früh Scotland Yard vor deiner Tür steht?«, spottete Frost. »Du bist einer der Lóngtóu. Niemand wird sich dir in den Weg stellen. Außerdem ist er Amerikaner. Er hat keinerlei Interesse an den Dragons.«

      Michael schien nachzudenken. Frost musste sich zwingen, die Hand ruhig zu halten. Ihr ganzer Körper tat weh, und vor lauter Anspannung verkrampften sich die Muskeln in ihrem Arm. Michaels langes Zögern raubte ihr noch den letzten Nerv. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt. Ging Michael nicht auf ihren Deal ein, war sie so gut wie tot. Sie hatte eine Waffe gegen einen der Lóngtóu erhoben. Damit hatte sie ihr Leben verspielt.

      »Also gut«, sagte Michael endlich, und Frost erlaubte sich wieder zu atmen. »Lasst ihn gehen. Lebend.«

      »Aber, Lóngtóu«, stieß einer der Männer aus, worauf Michael sich zornig zu ihm umdrehte.

      »Das war ein Befehl!«

      Frost zuckte zusammen, und die Hand, die immer noch die Waffe auf Michaels Herz ausrichtete, begann zu beben. Sie spürte, wie sich Michaels Griff um das Buch verstärkte, und sie ließ es los. Dann ließen die Männer von Payne ab und traten einige Schritte zurück. Payne sackte in die Knie und hielt sich hustend die Seite.

      »Danke, Lydia.« Michaels Stimme war wieder so charmant wie immer. Die neue Härte und Kälte an ihm verschwanden hinter seinem Lächeln. Er nahm das Buch an sich und deutete eine höfliche Verbeugung an. Frost starrte ihn an und wusste nicht, was sie fühlen sollte. Aber noch weniger wollte sie sich mit diesen Gefühlen auseinandersetzen. Nicht jetzt und auch nicht in absehbarer Zeit.

      »Kommen Sie, Payne«, sagte sie matt, als die Chinesen zwischen den Schatten der Aetherlampen verschwunden waren, und half dem Pinkerton auf die Beine. »Sie sind verletzt.«

      »Das war nicht schlecht«, stieß er hervor, und Frost glaubte eine Spur Respekt und Achtung aus seiner Stimme herauszuhören. »Sie haben mich ziemlich alt aussehen lassen.«

      »Sie haben sich aber gut gehalten für einen Pinkerton«, gab Frost zurück, worauf Payne lachen musste.

      Payne schlug die Augen auf und blinzelte geblendet. Er fühlte sich, als hätte ihn eine Dampfwalze überrollt. Als sich seine Augen langsam an das helle Licht gewöhnten, erkannte er eine Aetherlampe, die auf einem Tisch neben dem Sofa stand, auf dem er lag. Jemand hatte ihn in eine Wolldecke gehüllt. Im Kamin prasselte ein Feuer.

      Payne richtete sich auf und zog vor Schmerzen scharf die Luft ein. Die Decke fiel zurück, und er sah an sich hinunter. Jemand hatte ihm einen frischen Verband angelegt und vermutlich auch die Wunde genäht.

      Verwirrt schaute er sich um. Er befand sich in einem kleinen Wohnzimmer. Die Wände waren mit einer hellen, gemusterten Tapete bedeckt, an der Decke befand sich simpler weißer Stuck. Über dem Kaminsims hing ein Portrait von Königin Victoria, an der Wand daneben eine gerahmte Weltkarte aus dem vorherigen Jahrhundert. Das Zimmer war spartanisch, aber gemütlich eingerichtet.

      Wo war er? Und wer hatte ihn hierhergebracht und den frischen Verband angelegt? Dann kamen langsam die Bilder zurück. Die Flucht aus dem Pub, die Fahrt in der Straßenbahn, die Explosion, die Konfrontation mit den Chinesen.

      »Frost«, murmelte Payne und schwang die Beine auf den Boden. »Frost?«, sagte er ein zweites Mal, diesmal lauter. Dann hörte er, wie jemand eine Treppe heraufkam, gleich darauf klopfte es zögerlich an der Tür.

      »Mr. Payne?« Eine junge Frau kam etwas schüchtern herein und lächelte ihn an. »Sie sollten noch nicht aufstehen.«

      »Wer sind Sie? Und wo bin ich?«

      »Mein Name ist Helen, Sir. Miss Frost ist unten in der Agentur. Sie befinden sich in Miss Frosts Wohnung. Moment, ich hole sie gleich.«

      »Nein, warten Sie«, fing Payne an, doch die junge Frau war bereits wieder verschwunden. Ihre schnellen Schritte hallten auf der Treppe nach. Payne versuchte aufzustehen und stellte erfreut fest, dass seine Füße ihn trugen. Neben der Couch fand er seine Stiefel. Umständlich zog er sie an.

      Die Tür am Ende der Treppe stand weit offen und gab den Blick frei auf eine weite Fensterfront und die verschneite Straße dahinter. Dem Licht nach zu urteilen musste es früher Nachmittag sein. Payne trat durch die Tür und blieb zögerlich stehen. Links von ihm saß Frost an einem Schreibtisch. Vor ihr lagen ein dickes, oft gebraucht aussehendes Buch und Notizblätter. Sie sprach gerade mit der jungen Frau namens Helen, die vertraulich neben ihr stand.

      Payne räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen.

      »Mr. Payne!«, rief Frost und stand auf. Auf ihrem

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