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ist es zu diesem Zeitpunkt genauso wahrscheinlich, dass private Konflikte hinter den Vorfällen stecken«, beharrte Nemecek, wie um sich selbst endgültig zu überzeugen. »Eine eifersüchtige Geliebte, ein gehörnter Ehemann, ein anderer Triathlet, der es mit der Konkurrenz ein wenig übertreibt. Ganz abgesehen davon, dass selbst dann, wenn Joschak ermordet wurde, Zettl trotzdem einen ganz normalen Autounfall gehabt haben kann.«

      »Marina Joschaks Verdacht kann ich aber ebenso gut nachvollziehen«, behauptete Obermayr trotzig, als hätte sie die Ausführungen ihres Kollegen überhaupt nicht gehört. »Ein neuer CEO, eine andere Unternehmensphilosophie, ein Veränderungsprozess, der alle Karten neu mischt und ehemalige Kollegen zu erbitterten Konkurrenten macht. Das ergibt für mich schon auf den ersten Blick eine höchst explosive Mischung.«

      »Hältst du das agile Vorgehen denn für so gefährlich?«, versuchte es Nemecek mit ein wenig Ironie. Doch seine Kollegin, die ja sonst fast immer für eine humorvolle Wendung zu haben war, blieb ungewohnt ernst.

      »Wir sind jedenfalls gut beraten, ganz genau hinzuschauen. Wer weiß, welche Dynamiken dort in Gang gesetzt wurden – und im Zuge der diversen Um- und Neubauten alles zutage kam.«

      Für Nemeceks klang das ziemlich schlüssig. Selbstverständlich setzte der Versuch, ein Unternehmen schneller und wendiger zu machen, viele Dinge in Bewegung. Das lag, soweit er das verstanden hatte, in der Natur eines agilen Veränderungsprozesses, wie er bei der Acros anscheinend implementiert werden sollte. Ebenso brachte eine solche Veränderung zwangsläufig diverse Spannungen mit sich. Gewohnte Arbeitsabläufe wurden infrage gestellt, bisherige Entscheidungsroutinen außer Kraft gesetzt und das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neu gestaltet. All das setzte, wie Reto Pflückinger in einem seiner Interviews sehr überzeugend argumentiert hatte, die ganze Organisation, vor allem aber ihr Management unter Druck. Doch konnte dieser Druck so stark zunehmen, dass daraus ein echtes Pulverfass entstand? Und genügte dann schon ein wenig Zündstoff, um dieses zur Explosion zu bringen?

      »Zum Glück müssen wir nicht mehr allzu lange spekulieren, ob es sich überhaupt um Mordfälle handelt«, meinte Obermayr, als sie endlich in die Währingerstraße einbogen. Denn in wenigen Minuten würden sie das gerichtsmedizinische Institut erreichen und bald schon jeden Zweifel hinter sich lassen.

       Montag, 14:16

       Es war Mord

      »Herr Chefinspektor«, verfiel Gerda Probisch in diesen schulmeisterlichen Ton, für den sie bekannt war, »wenn ich mit Sicherheit sage, dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass da nicht der Hauch eines Zweifels besteht.«

      Über den schmalen Rand ihrer goldenen Brille warf sie ihm einen dieser Blicke zu, die so typisch für sie waren: streng, unnachgiebig und mit dieser herablassenden Art von Menschen, die zu hundert Prozent von sich überzeugt sind.

      Nemecek biss sich auf die Lippen, damit ihm nicht noch eine überflüssige Anmerkung entschlüpfte – oder er gar die Obduktionsergebnisse infrage stellte, von denen er soeben erfahren hatte. Die Grande Dame der Gerichtsmedizin hatte nämlich zweifelsfrei nachgewiesen, dass Joschak keinem Unfall zum Opfer gefallen war. Er war zwar ertrunken, die Wunde am Hinterkopf war ihm aber definitiv vor seinem Tod beigebracht worden. »3,4 cm lang, 1,5 cm breit und fast 2 cm tief«, lieferte Martin Habicher, Probischs ewiger Assistent, die pathologischen Fakten, bevor seine Chefin erläuterte: »Kräftiger Schlag mit einem scharfkantigen Gegenstand, der zu sofortiger Bewusstlosigkeit und in weiterer Folge zum Tod durch Ertrinken geführt hat.«

      Scharfkantiger Gegenstand, überlegte Nemecek verwundert, mitten auf dem See?

      »Könnte vielleicht ein Ruder gewesen sein«, relativierte Obermayr sogleich alle Wunder. »Oder ein schwerer Gegenstand, der ihm an den Kopf geworfen wurde.«

      »Möglich«, räumte Probisch ein, »zumindest, wenn der Gegenstand aus Holz bestanden hat. In der Wunde haben wir nämlich mikroskopisch kleine Holzsplitter gefunden.«

      »Und die Wunde kann nicht von einem der Boote stammen oder vom Steg, wo die Leiche gefunden wurde?«, setzte Obermayr mit einer naheliegenden Frage nach. »Da gibt es doch auch jede Menge Holzteile?«

      »Die Form der Wunde spricht eindeutig dagegen«, beschied Probisch knapp und verstummte, als wäre hiermit alles gesagt. Doch Habicher, der ja trotz seiner treuen Dienerschaft seit vielen Jahren selbst eine Professur innehatte, fühlte sich noch zu einer Ergänzung bemüßigt. »Die anderen Wunden und die Knochenbrüche hat er definitiv erst post mortem erlitten.«

      Es muss also noch jemand auf dem See gewesen sein, sah Nemecek seine ursprüngliche Vermutung bestätigt.

      »Der große Unbekannte in einem Elektroboot?« Obermayr dachte offenbar in dieselbe Richtung. »Oder in einem Ruderboot. Oder vielleicht sogar auf einem dieser Stand-up-Paddle-Boards.«

      »Bei heftigem Wellengang?«, fragte Nemecek. »Du vergisst, dass es zu dieser Zeit ein schweres Gewitter gab!«

      »Stimmt«, räumte seine Kollegin ein. »Ich kann mich ja nicht einmal bei ruhiger See auf diesen Dingern halten.«

      Wie auch immer, schob Nemecek die Frage nach dem Transportmittel vorläufig zur Seite. Der Täter musste Joschak jedenfalls überrascht haben. Wahrscheinlich hatte er sich von der Seite genähert, an der Joschaks Kopf nicht regelmäßig aus dem Wasser tauchte – zumindest, wenn man von der klassischen Kraultechnik ausging. Andernfalls hätte Joschak doch den Angreifer sehen müssen und es hätte Abwehrverletzungen gegeben. Oder war alles so schnell gegangen, dass er gar nicht mitbekam, dass es sich um eine mörderische Attacke handelte? Immerhin war extrem schlechtes Wetter und Joschaks Sicht durch die Schwimmbrille ebenso eingeschränkt wie sein Gehörsinn durch die Badehaube.

      »Unser Opfer muss völlig überrascht worden sein«, nahm Probisch seine Gedanken auf. »Joschak war wahrscheinlich in seinem eigenen Flow, bis dieser brutal beendet wurde.«

      Nemecek staunte, dass die Gerichtsmedizinerin sich solchen Spekulationen hingab und dabei noch dazu ein so überstrapaziertes Wort in den Mund nahm. Flow konnte heutzutage ziemlich vieles bedeuten: die völlige Konzentration auf eine bestimmte Herausforderung, das Aufgehen in einer bestimmten Tätigkeit oder eben ein besonderes Rauschgefühl im Sport. Seine Frau Bettina hatte sich einmal intensiver mit dem bekannten Glücksforscher beschäftigt, dessen Namen in seiner Erinnerung nur aus einer langen Reihe von C, I und Y bestand. Dass ausgerechnet die sprachverliebte Gerichtsmedizinerin darauf anspielte, war erstaunlich. Aber vielleicht war Gerda Probisch in ihrer Jugend selbst Schwimmerin gewesen? Und kannte daher sowohl die Kraultechnik als auch das Hochgefühl, das dabei entstehen konnte? Nemecek dachte an diesen besonderen Tunneleffekt, den er beim Laufen oder Downhillen erlebte und der mitunter, wie er gerade erst wieder erlebt hatte, zu gefährlichen Situationen führen konnte.

      »Ich nehme an, die aufgefundenen Holzsplitter sind bereits in der KTU zur weiteren Materialanalyse?«

      »Selbstverständlich.«

      »Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Habicher zuvorkommend, als wäre er Verkäufer in einem Spezialitätengeschäft und erwarte die nächste Bestellung. Hatte er seinen Oberkörper nicht sogar kurz nach vorne gebeugt, wie das früher bei Dienstboten üblich war? Zuzutrauen wäre es ihm auf jeden Fall.

      »Da ist tatsächlich noch etwas.« Kaum, dass er den Satz ausgesprochen hatte, sah Nemecek, wie sich die Augenbrauen der beiden Gerichtsmediziner fast gleichzeitig in die Höhe hoben. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet.

      »Haben Sie letzte Woche einen gewissen Gernot Zettl obduziert?«

      »Ist auf der Höhenstraße bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, ergänzte Obermayr.

      »Was hat das mit dem vorliegenden Fall zu tun?«, wollte Probisch wissen, während ihr Assistent bereits nach seinem allwissenden Tablet griff.

      »Wissen wir noch nicht«, gestand Nemecek. »Wir wissen allerdings, dass Zettl im selben Unternehmen wie Joschak gearbeitet hat. Sogar im selben

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