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langsam nahm sie ihr Gesicht in beide Hände und schüttelte dann den Kopf: »Nein! Nein! Nein!«

      Nemecek spürte seine wachsende Unruhe. Konnte Joschak ihren Schmerz nur auf diese exaltierte Weise zum Ausdruck bringen? Rang sie plötzlich derart heftig mit ihrer Trauer, nachdem sie vor ein paar Tagen noch höchst aggressiv aufgetreten war? Demonstrativ schüttelte Nemecek den Kopf. Im Laufe seiner Karriere hatte er ja schon vieles gesehen, doch Joschaks Verhalten kam ihm ebenso dick aufgetragen vor wie ihre Schminke. Maske, Kostüm, Bühne und sie als geduldige Zuschauer – passte doch alles wunderbar zusammen.

      Obermayr warf ihm einen genervten Blick zu, als ginge ihr gerade genau dasselbe durch den Kopf. Lange würde sie sich diese Vorstellung nicht mehr bieten lassen. Schon verformte sich ihre linke Augenbraue zu einem zornigen Ausrufezeichen, als Joschak die Hände vom Gesicht riss und unvermittelt zu reden begann.

      »Was war er für ein Mensch?«, wiederholte sie die ursprüngliche Frage, während sie ihren wackligen Oberkörper energisch aufrichtete. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr auf die Tischplatte vor ihr fixiert, sondern starrten geradewegs nach oben, als fände sie die Antwort irgendwo an der Küchendecke. »Als ich ihn kennenlernte, hatte Marco gerade die Schule abgebrochen. Im Grunde war er damals ohne jede Perspektive, ein klassischer Kandidat für die Straße.« Mit dieser Erinnerung schien sich Joschaks Blick neuerlich in der Ferne zu verlieren.

      »Aber es kam anders«, setzte Obermayr nach, um ihren Redefluss in Gang zu halten.

      »Er hat es immerhin bis zum Abteilungsleiter gebracht, der für über 100 Leute verantwortlich war«, sprang Joschak ansatzlos von der Frühgeschichte in die Gegenwart und dann gleich weiter in die Zukunft. »Und demnächst sollte er sogar in den Vorstand aufrücken!«

      Nun war es an Nemecek, überrascht zu sein. Beförderung? Konkurrenz? Neid?, kritzelte er rasch in sein Notizbuch, das bis dahin unberührt vor ihm lag.

      »Das heißt, er war ein Mensch, der sich durchzusetzen wusste.«

      Während Obermayr gespannt auf eine Reaktion wartete, begannen Joschaks Augenlider unkontrolliert zu flattern. Es sah gespenstisch aus und Nemecek fragte sich ernsthaft, ob mit ihrer Gesprächspartnerin alles in Ordnung war. Setzten sie sie zu sehr unter Druck? Unterschätzten sie, wie nahe ihr der Tod ihres Mannes ging? Unversehens senkte Joschak den Kopf und schloss die Augen. Nemecek befürchtete schon, sie könnte einfach einschlafen, als sie im nächsten Moment wieder hochfuhr und weitersprach, als wäre nichts gewesen.

      »Er war der ehrgeizigste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Und nicht nachließ, bis er das auch erreicht hatte.«

      »Damit wird er sich nicht nur Freunde gemacht haben«, unterstellte Obermayr.

      »Im Gegenteil, seine Mitarbeiter haben ihn verehrt«, gab Joschak spitz zurück. »Was ja auch kein Wunder ist, so wie sich Marco für sie eingesetzt hat.«

      »Er hatte also keinen Streit, von dem sie wissen? Keine Feinde, die ihm Übles wollten? Keine Konkurrenten oder Neider?«

      Statt die Frage zu beantworten, presste sie die Lippen zusammen und deutete ein Kopfschütteln an.

      Nemecek sah, wie Obermayr ein Seufzen unterdrückte. Wahrscheinlich fragte sie sich genau wie er selbst, warum sich Marina Joschak so verschlossen gab, wenn sie doch wollte, dass aus dem vermeintlichen Unfall ein Mordfall wurde? Irgendetwas stimmte hier nicht. Vielleicht mussten sie pointiertere Fragen stellen?

      »Lassen Sie uns noch einmal zu dem verhängnisvolles Abend zurückkehren«, schlug er vor. »Laut Protokoll der Faaker Kollegen haben Sie Ihren Mann bereits um 22 Uhr als vermisst gemeldet.«

      Joschak starrte Nemecek an und er starrte zurück. Ihre Augen wirkten glasig. Erst in diesem Moment kam ihm der Gedanke, dass die Witwe unter Medikamenteneinfluss stehen könnte. Oder hatte sie getrunken? Oder beides? Das würde jedenfalls ihr seltsames Verhalten erklären und wohl auch diesen leichten Zungenschlag, den er bisher ihrem Dialekt zugeschrieben hatte.

      »Warum haben Sie sich schon so früh Sorgen gemacht?«

      Wieder reagierte Joschak erst mit Verspätung auf Obermayrs Frage. »Ich habe gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.«

      »Es war üblich, dass er sich gleich nach seinem Triathlontraining bei Ihnen meldete?«

      »Selbstverständlich! Wenn er in Villach zu tun hatte, nützte er jede freie Minute dafür. Aber nach dem Training haben wir immer miteinander telefoniert.«

      »Aber es ist doch sicher einmal vorgekommen, dass er dann noch etwas essen gegangen ist? Oder zumindest etwas trinken?«

      Joschak drehte neuerlich ihren Kopf hin und her. Dann wechselte sie übergangslos vom Verwirrungs- in den Angriffsmodus. »Ihre Kollegen waren total inkompetent. Zuerst haben sie mich als lästige Bittstellerin behandelt und dann das Ganze als tragischen Unfall abgetan.«

      »Was macht sie so sicher, dass es keiner war?«

      »Hören Sie!« Joschak lehnte ihren Oberkörper noch weiter nach vorne. »Marco war Spitzensportler, er kannte die Gegend, ist praktisch am See aufgewachsen.«

      »Sie wissen schon, dass die meisten unnatürlichen Todesfälle in den eigenen vier Wänden passieren«, hielt Obermayr dagegen. »Also in der Gegend, die man für gewöhnlich am allerbesten kennt.«

      »Es war Mord!«, schrie Marina Joschak unvermittelt und sprang von ihrem Stuhl auf. Es klang wie ein fernes Echo des Vorwurfs, mit dem sie vor ein paar Tagen das Polizeipräsidium verlassen hatte. Nemecek sah, wie Joschaks Hände zitterten. Sie merkte es wohl auch selbst und stützte sich an der Tischplatte auf, um wieder festeren Halt zu finden.

      »Was macht Sie so sicher?« Nemecek spürte deutlich, dass sie nun in einer neuen Gesprächsphase angekommen waren.

      »Weil man meinen Mann gnadenlos unter Druck gesetzt hat«, erklärte Joschak, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.

      »Inwiefern?«

      »Alles nur, weil sich dieser Schweizer in den Kopf gesetzt hat, dass alles anders werden muss.«

      »Sie meinen Reto Pflückinger, den neuen CEO?«, fragte Obermayr.

      »Plötzlich muss alles anders werden. Angeblich geht es um Verbesserung, dabei wird einfach nur ganz viel zerstört.«

      »Wie zerstört?«

      »Glauben Sie denn wirklich, dass mein Mann zufällig gestorben ist?« Joschak riss die Arme zur Seite. »Der ist gezielt ausgeschaltet worden!«

      »Haben Sie dafür auch irgendwelche Beweise?«

      »Und dass er demnächst zum Technikvorstand berufen werden sollte, rief natürlich jede Menge Neider auf den Plan.«

      »Neider?« Nemecek horchte auf. Er hoffte, dass Joschak nunmehr Tacheles reden würde: spezielle Situationen, nachvollziehbare Zusammenhänge, konkrete Namen. Doch diese blieb ihrer Linie treu, direkte Fragen nicht zu beantworten. Zweifellos befand sie sich unverändert in ihrem eigenen Film.

      »Natürlich haben sich auch andere für den Job beworben. Vor allem Johanna Kniewasser hat keine Gelegenheit ausgelassen, meinem Mann Prügel zwischen die Beine zu werfen.«

      Kniewasser, notierte Nemecek rasch in sein Notizbuch und zeichnete einen dicken Pfeil zu den möglichen Motiven, die er zuvor festgehalten hatte. Beförderung? Konkurrenz? Neid?, las er. Es blieb ihm allerdings keine Zeit, um über weitere Zusammenhänge nachzudenken.

      »Auch dieser seltsame Schwede, dieser Swartling, hat sich ja, wo es ging, gegen ihn gestellt.«

      »Wie heißt der?«, rutschte Nemecek heraus, obwohl ihm klar war, dass auch dieses Fragezeichen ungeklärt bleiben würde. Swartling?, übertrug er stattdessen in sein Buch.

      »Die Langholt spielt seit jeher sowieso ihr eigenes Spiel. Und aufgrund seiner Geschichte ist und bleibt der junge Wondratsch völlig unberechenbar.«

      Langholt, Wondratsch, hielt Nemecek auch diese Namen fest. Viel

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