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Hinsicht schon ein ganz anderes Kaliber. Allein, wenn er Revue passieren ließ, welche tiefgreifenden Veränderungen seit der Geburt seiner beiden Töchter stattgefunden hatten: seien es nun politische Veränderungen, wie die weltweiten Flüchtlingsströme, ökologische, wie sie die von seinen Töchtern leidenschaftlich unterstützte Friday for Future-Bewegung thematisierte, soziale Veränderungen, die nicht zuletzt durch die sozialen Medien forciert wurden, oder eben ökonomische Veränderungen, die Unternehmen vor ungeahnte Herausforderungen stellten. Dafür gab es eben schon lange keine verlässlichen Landkarten mehr, geschweige denn ausgetretene Pfade, denen man einfach folgen konnte. Dazu kam, dass sich mit dem Markt auch die inneren Anforderungen an Organisation und Management gewandelt hatten. Schließlich legten die Kunden mittlerweile auf ganz andere Dinge wert, als dies 20 Jahre zuvor der Fall war. Und dasselbe galt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diversen Generationen X, Y und Z, die klammheimlich die Unternehmenskulturen dieser Welt veränderten.

      »Wir bewegen uns durch unbekanntes Gelände«, las er weiter, »und dafür brauchen wir neue Formen der Navigation.« Das war zwar reichlich metaphorisch, doch Nemecek liebte seit jeher starke Bilder, die nicht nur trockene Fakten boten, sondern Raum zum Nachdenken öffneten. In diesem Fall wurde die Tür zu einer der Kernfragen der Agilität aufgestoßen: Wozu das Ganze? Wenn der Weg in eine erfolgreiche Zukunft durch unbekanntes Gelände führt, so die Argumentation, brauchen Unternehmen jedenfalls mehr Flexibilität. Und sie brauchen andere Formen der Steuerung, um eine solche Flexibilität zu gewährleisten.

      Das leuchtete ihm ein und er vertiefte sich weiter in den Text. Wenn sich die Welt schneller drehte und zugleich immer unberechenbarer wurde, müssen Unternehmen möglichst bewegliche Systeme schaffen. Das konnte jedoch nur gelingen, wenn die Unternehmen agiler wurden, was ja buchstäblich mehr Beweglichkeit und Schnelligkeit versprach. Die gewünschte Agilität hing allerdings davon ab, dass man überhaupt mitbekam, was sich rundherum tat. Dafür benötigte man wiederum eine besondere Form des Radarsystems, das den eigenen Informationsstand beständig aktualisierte. Fragte sich bloß, wie das in der Praxis gelingen konnte.

      Nur wenig später stieß er auf eine überzeugende Antwort: Um für ein möglichst breites Sensorium zu sorgen, hieß es da, müssen nicht nur einzelne Spezialisten, sondern alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Fühler ausstrecken. Sie würden, argumentierte die Autorin weiter, gleichsam zu Spionen, die das Geschehen auskundschaften, indem sie mit Kunden reden, deren Wünsche erkunden, neue Möglichkeiten ausloten und ihre fachkundigen Schlüsse zogen. Um die wahrgenommenen Chancen und Risiken möglichst effizient verarbeiten zu können, brauchte es wiederum geeignete Kommunikationsformate und Arbeitsprozesse. Denn die beste Information nützte wenig, wenn man organisationsintern nicht imstande war, die neuen Anforderungen rasch zu teilen und entsprechend umzusetzen, um dem Kunden bessere Produkte und Dienstleistungen zu liefern.

      »Hallooo? Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?«

      Nemecek hob den Kopf. Anscheinend war er so vertieft gewesen, dass er seine Frau nicht mehr wahrgenommen hatte. Bettina musterte ihn skeptisch. »Du kannst wohl niemals abschalten, oder? Und wenigstens für ein paar Stunden ganz bei uns sein?«

      Mehr als ein hilfloses Schulterzucken hatte Nemecek nicht zu bieten. Er merkte, dass ihn die kritischen Worte seiner Frau störten. Aber noch mehr störte ihn die Ahnung, dass sie recht hatte.

      »Also noch einmal«, sagte Bettina eindringlich. »Was wollen wir denn heute Abend essen? Die Kinder haben Hunger. Und wie du weißt, duldet das keinen Aufschub. Du kennst sie ja!«

      Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass die vier Mädchen bereits ihre Badesachen in den Händen hielten. Er hatte weder bemerkt, wie ihre große Seeschlacht weiterverlaufen, noch wann sie zu Ende gegangen war. Aber nun war offenkundig Aufbruch angesagt. Nemecek stand von seiner Liege auf und ging auf die jungen Damen zu.

      »Hallo Mädels«, rief er mit demonstrativer Fröhlichkeit, »wie war’s im See?«

      »Eh lustig«, beschied Sophie kurz angebunden. »Nun haben wir aber vor allem eines: einen riesigen Hunger.«

      »Ich könnte ein Mammut verdrücken!«, bestärkte Lea.

      »Noch jemand, der Lust auf Mammut hat?«

      »Papa!«, mahnte Sophie und hielt sich die Hand auf den Bauch. »Lass deine müden Witze. Sag uns lieber, was es zu Essen gibt.«

      »Worauf habt ihr denn Lust?«

      »Wie wär’s mal wieder mit Pizza?«, preschte Klara vor.

      »Oder Huhn«, meinte Lydia.

      »Oder Lasagne«, ergänzte Sophie.

      Nemecek musste lachen. »Was denn nun? Könnt ihr euch nicht auf ein Gericht einigen?«

      »Wie wär’s mit Kindergruppenessen?« Bettina blickte gespannt in die Runde.

      »Ja«, riefen Sophie und Lea wie aus einem Munde. »Das machen wir!«

      »Was ist Kindergruppenessen?«, fragte Klara skeptisch. Für sie klang das wahrscheinlich ein wenig nach Babybrei.

      »Das ist unser Lieblingsgericht«, klärte Sophie ihre Freundin auf. »Das hat der Papa immer gemacht, wenn er in der Kindergruppe Kochdienst hatte.«

      Klaras Zweifel schienen nicht geringer geworden zu sein. Kochdienst klang wohl nur wenig vertrauenserweckend.

      »Und was ist das nun für eine Wunderspeise?«

      »Hühnergeschnetzeltes mit Karotten, Zwiebeln und Paprika in einer weißen Sauce. Dazu Reis und Salat. Ur lecker!«

      »Darin ist unser Dad ein echter Spitzenkoch«, bestätigte Lea.

      »Von mir aus«, gab sich Klara geschlagen, klang jedoch alles andere als überzeugt.

      »Und du?«, wollte Sophie nun auch von Lydia wissen.

      »Okay.«

      »Also«, zeigte sich der designierte Spitzenkoch entschlossen, »dann nehme ich hiermit eure offizielle Bestellung an! Ich hoffe nur, wir haben alle Zutaten im Haus.«

      »Und ich hoffe, es dauert nicht lange. Ich habe nämlich schon einen totaaaalen …«

      »Das wissen wir schon!«, fuhr Sophie ihrer Schwester in die Parade. »Du musst nicht alles tausendmal wiederholen.«

       Freitag, 13:51

       Freund und Feind

      Die Sonne fiel durch die Blätter und warf ein zackiges Schattenmuster auf den Weg. Mit jedem Laufschritt ergab sich ein neues Bild. Zu seiner Rechten rauschte der Bach leise in Richtung See. Der Duft des Waldes kitzelte ihn in den Nasenlöchern. Nemecek atmete tief durch, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen. Obwohl die Sonne wieder gnadenlos herunter brannte, herrschte hier eine angenehme Temperatur. Die hohen Bäume spendeten ausreichend Schatten und das fließende Gewässer brachte eine zusätzliche Kühlung. Nemecek spürte, wie sich seine Anspannung allmählich zu lösen begann. Der gleichmäßige Bewegungsrhythmus war genau das, was er jetzt brauchte. Der Ausdruck »sich ein wenig Auslauf zu gönnen« fiel ihm dazu ein, aber auch »auf dem Laufenden zu sein«. Auf alle Fälle tat das sowohl seinem Körper als auch seinem Kopf gut.

      Nichtsdestotrotz lastete die unklare Situation nach wie vor auf seinen Schultern. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Warum ging er gerade diesem Unfall nach? Was, wenn es sich doch bloß um eine Verkettung tragischer Umstände handelte? Möglicherweise entpuppte sich der Mordvorwurf als völlig haltlos? Wie aufgescheuchte Vögel kreisten ihm die vielen offenen Fragen im Kopf herum.

      Als Nemecek heute Mittag die kleine Polizeistation in Faak betreten hatte, sah alles noch ganz anders aus. Aufgrund seiner langjährigen Bekanntschaft hatte ihn Inspektionsleiter Rudi Hinteregger zwar freundlich begrüßt. Vonseiten seines Kollegen Andreas Ruschitz war ihm indes sofort eine deutlich ablehnende Haltung entgegengeschlagen. Während er einen vergnüglichen Small Talk mit Hinteregger führte, verfolgte Nemecek aus den Augenwinkeln, wie

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