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Band zusammengetragen habe, nehmen Sie mit auf die Reise, von der Sie hoffentlich zurückkommen mit dem Gedanken: „Ja, so könnte die Zukunft tatsächlich sein“.

      Jürgen Rink

      Herausgeber

      Jede Ausgabe der zweiwöchentlichen Zeitschrift c‘t, Europas größter IT-Zeitschrift, enthält eine Kurzgeschichte. Aus den über 300 Geschichten sind hier die besten zusammengestellt, die das Thema virtuelle Realität aufgreifen.

      Tino Falke

       Schnapp sie alle!

      Es passiert nicht jede Nacht, dass man von einer leuchtenden Kreatur geweckt wird, die mitten im Schlafzimmer schwebt, aber als ich die Augen öffne, erhellt eine Banshee den Raum. Weißes Haar weht um ein zerfurchtes Gesicht, Fetzen ihres Kleides flattern in alle Richtungen. In den Augenhöhlen und aus dem weit aufgerissenen Mund heraus blinken mir kleine Quadrate entgegen. Pixelfehler.

      „Geh ins Bett“, murmele ich ins Kissen.

      „Aber Mama!“, sagt Dimitri. „Bansheestaub fehlt mir noch!“

      Immerhin hat er den Ton ausgestellt – die Kreatur kreischt, ohne dass etwas zu hören ist. Trotzdem hat mein Sohn um diese Uhrzeit nicht in meinem Türrahmen zu stehen. Morgen ist Schule. Ein Blick genügt und er lässt sein Handy sinken. Das Hologramm verschwindet.

      Ich kann froh sein, dass er zu jung war, als ähnliche Trends zum ersten Mal aufkamen. Kinder liefen auf der ganzen Welt durch die Gegend, um digitale Monster einzufangen. Was damals lediglich auf Displays angezeigt wurde, wird heute für alle sichtbar in die Luft projiziert. Kein Wunder, dass SpriteMania GO alle App-Charts anführt. Die Elfen und Kobolde des Spiels, deren magischen Staub man sammeln soll, könnten kaum lebensechter sein.

      „Karlo aus der 4b hat sogar schon eine Trophäe freigeschaltet“, klagt Dimi am Frühstückstisch. „Weil er über 50 verschiedene Sprites getroffen hat! Das schaff ich nie! Und ich brauche unbedingt noch Gnomenstaub!“

      Ich nicke – aber erst später, als er schon längst in der Schule ist und der Computer in meinem Home-Office mit dem Kompilierlauf für meinen Code beschäftigt ist, nutze ich die Wartezeit, um mehr herauszufinden. Hunderte Artikel berichten vom Erfolg der App, die so effektiv dafür sorgt, dass mehr und mehr Kinder ihre Zeit an der frischen Luft verbringen. Cottingley Games, das Studio hinter dem Spiel, weist darauf hin, dass Sprite-Jäger die Straßenverkehrsordnung beachten und keine Privatgrundstücke betreten sollen, doch natürlich steigen Kinder trotzdem über Stacheldrahtzäune und laufen in einsturzgefährdete Gebäude.

      Im Radio heißt es, dass die Anzahl der Auffahrunfälle sich verdoppelt hat, seitdem überall Kinder Ampeln ignorieren, um schneller zu erreichen, was ihr Radar ihnen anzeigt. Gruppen mit Hunderten von Spielern versammeln sich um seltene Sprites und blockieren ganze Straßen, halten nachts müde Anwohner wach und müssen regelmäßig von der Polizei nach Hause geschickt werden. Für all das ist im Grunde Cottingley Games verantwortlich.

      In Großstädten sind bereits erste Spieler überfallen und dazu gezwungen worden, per Tauschfunktion ihren kostbaren Staub herzugeben. Und an Schulen entwickelt sich SpriteMania GO mehr und mehr zum Statussymbol.

      Jeden Tag, wenn ich Dimitri abhole, ist der Schulhof voll mit Kindern, die mit ihren Handys in alle Richtungen zielen, bis sie das haben, was sie suchen. Sobald ihre Holobeamer die Kreaturen erscheinen lassen, tippen sie auf den Touchscreens herum, um den Sprites ihren Staub abzunehmen und ihn in virtuelle Phiolen zu füllen. Die meiste Zeit stehen sie also wortlos glotzend um leuchtende Hologramme herum. Wie Motten um eine Glühbirne. Wie Betende um einen strahlenden Götzen. Den Mittelpunkt ihres Interesses bilden all die im Spiel verarbeiteten Waldwesen und Naturgeister aus verschiedensten Mythologien.

      „Karlo sagt, er hat einen Faun getroffen!“, sprudelt Dimi gleich los, als er nach der Schule ins Auto einsteigt. „Das sind fast die seltensten! Danach kommt nur noch der Große Pan! Mama, wenn ich Staub vom Pan hab, dann bin ich der Beste!“

      „Das wäre natürlich toll“, sage ich.

      Wir sind keine Minute unterwegs, da vibriert sein Handy.

      „Ein Gnom!“, schreit er und zeigt mir die GPS-Karte unserer Nachbarschaft. Auf einer der Straßen blinkt das Symbol für ein neues Sprite.

      „Mama, wir müssen da hinfahren!“

      „Wir fahren jetzt erst mal nach Hause“, sage ich.

      „Du musst rechts abbiegen!“, ruft Dimi. „Du fährst ja dran vorbei!“

      Wenn er seine Hausaufgaben fertig hat, sage ich, dann kann er vor dem Essen noch mal nach Gnomen suchen.

      Wir biegen nicht ab. Sofort bricht Dimi in Tränen aus. Nicht das übliche Weinen, wenn er nicht bekommt, was er will. Er jault, als stünde das Ende der Welt bevor. Sein Schluchzen ist so stark, ich verstehe nur einen Bruchteil seiner Worte –„unbedingt“ und „brauch ich noch“ und immer wieder „Karlo“.

      Ich nehme Dimitri in den Arm, bis er sich beruhigt hat. Er spricht nur noch wenig an diesem Abend, doch schon bald macht es „klick“ bei mir. Wer nicht den richtigen Staub gesammelt hat, hat auf dem Schulhof nichts mehr zu melden. Kinder ohne Smartphone haben bereits verloren. Kinder, die nur geringe Erfolge haben, werden ausgelacht, ausgeschlossen und dürfen bei den Müllcontainern spielen.

      Gleich am nächsten Tag rufe ich bei der Schule an. Ich spreche mit Lehrern und anderen Eltern, aber die Reaktion ist überall dieselbe: Die Kinder spielen doch nur. In einer Woche haben sich alle wieder vertragen. Doch ich sitze nicht tatenlos herum, während mein Sohn wie ein Aussätziger behandelt wird.

      Nachdem Dimi sich das nächste Mal in den Schlaf geweint hat, schnappe ich mir sein Handy und kopiere mir das Installationsarchiv der App, um nach dem Quellcode zu suchen. Ich kann seine Staubphiolen nicht einfach füllen, doch nach Jahren in der Software-Entwicklung ist es kein Problem für mich, einen eigenen Server aufzusetzen und ihn mit Dimis Spieldatei zu verknüpfen. Der Befehl, der eine zufällig ausgewählte Kreatur auftauchen lässt, ist schnell gefunden und modifiziert – ab morgen bekommt mein Sohn das dazugehörige Signal doppelt so oft, vom Cottingley-Games-Server und von zu Hause.

      Ich kann ihn weder vom Spielen abhalten noch das Verhalten der anderen Kinder ändern. Ich kann nur dafür sorgen, dass Dimi so schnell wie möglich alle Sprites trifft und den Trend hinter sich lassen kann. Ihn vergessen wie all die kompletten Sammelkarten-Sets und vollen Stickeralben, die sofort uninteressant wurden, als es nichts mehr zu erreichen gab.

      Bevor Dimi am nächsten Morgen zur Schule fährt, trifft er schon auf zwei Pixies. Eine Woche später und er zählt bei jedem Essen neue Kreaturen auf, von denen ich noch nie gehört habe. Ich warte darauf, dass das Spiel endlich seinen Reiz verliert. Doch der Hype ebbt nicht ab.

      Jedes zweite Geschäft in der Stadt verkündet im Schaufenster, dass man dort besonders guten Feenstaub finden könne. Cafés und Bars locken mit Rabatten und Gratisessen, wenn man vor Ort ein Selfie von sich mit einem Sprite macht und das Bild online stellt. Jeder Trend, der weit genug verbreitet ist, wird früher oder später für Marketing-Zwecke nutzbar gemacht.

      All das wäre mir recht, doch die derzeitige Kindergeneration ist technikaffiner als ich dachte. Sobald Dimitris Mitschülern aufgefallen ist, dass ihm Kreaturen begegneten, die auf ihrem Radar gar nicht angezeigt wurden, haben sie sich seine Setup-Datei kopiert. So ist sie schließlich im Internet gelandet, und bevor ich wusste, was vor sich ging, hat mein Server Tausende Spieler mit zusätzlichen Sprites versorgt.

      Als ich das nächste Mal mein Home-Office betrete, schlägt mir das Rauschen der Lüfter entgegen, die verzweifelt versuchen, die unter Volllast arbeitende Rechnerhardware zu kühlen. Die Anzeige, die darüber Aufschluss gibt, an welchen Orten das Signal meines Servers empfangen wird, braucht so viel Platz, dass ich sie über mehrere Monitore verteilen muss. Meine Spielversion, von

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